Intellektuelle SelbstverteidigungEinige praktische Tipps gegen studentische Depression und Überforderung
Das Auseinanderklaffen von dem, was eigentlich an den Hochschulen möglich und wünschenswert ist, und jenem, was dort tagtäglich geschieht, ist wohl das zentrale Problem eben dieser Einrichtung und somit der Studierendenschaft. Unter ihm leiden all jene, denen das Monologisieren von DozentInnen und die diskussionsfeindlichen Veranstaltungs-Strukturen, die stets dafür sorgen, dass eigene Interessen, Sorgen und Bedürfnisse dem Studium äußerlich bleiben, zunehmend die Lust am Studieren austreiben. Nachfolgend einige Tipps zur „intellektuellen Selbstverteidigung“, zusammengestellt von Jens Wernicke.
Während sich in der Schule alle gegenseitig kennen, man weiß, was voneinander zu halten und erwarten ist und auch die Anforderungen noch halbwegs überschaubar sind, markiert der Studienbeginn hier einen fundamentalen Bruch: In fast jeder Veranstaltung trifft man auf andere Leute, und kaum hat man sich an diese gewöhnt, ist das Semester auch schon wieder vorbei. Stoff und Anforderungen sind nicht nur unüberschaubar, sie scheinen endlos zu sein. Schnell verliert man im Hochschulbetrieb das Gefühl, etwas wirklich Sinnvolles, etwas für sich selbst und sein Leben zu tun, fühlt sich überfordert, allein, ja „atomisiert“.
Buchtipp
Uni-Angst und Uni-Bluff
Wie studieren und sich nicht verlieren.
Von Wolf Wagner.
2002, Europäische Verlagsanstalt. ISBN 3434461159.
TB: 8,90€
via amazon.de
(Neuauflage von 2007 inhaltlich verändert und nur noch eingeschränkt empfehlenswert – vgl. das Interview hier)
Doch hiergegen kann man durchaus etwas tun. Jens Wernicke stellt eine Auswahl an Optionen und Strategien, die vor allem dem Buch „Uni-Angst und Uni-Bluff. Wie studieren und sich nicht verlieren“ von Wolf Wagner (siehe Kasten) entnommen sind, vor.
Anschluss finden
Am besten ist, ihr tut euch gleich von Anfang an mit anderen zusammen. Entweder mit wem, den ihr schon von zu Hause her kennt, oder, wenn das nicht geht, mit wem, den ihr einfach ansprecht, weil er oder sie vielleicht genauso verloren rumsteht wir ihr selbst. Wenn ihr euch das nicht traut, geht einfach in die Studienberatungen der verschiedenen politischen Gruppen und offiziellen Stellen deines Fakultät, deines Instituts – solange, bis du zusammen mit anderen Studierenden beraten wirst und mit diesen ins Gespräch kommen kannst.
Überforderung konsequent vermeiden
In diesen Studienberatungen frag dann ganz gezielt nach, was die Minimalanforderungen an Scheinen und Leistungen im Grund- bzw. Bachelor-Studium sind. Und auch, welche zur Gewährung von BAföG zwingend erforderlich sind.
Wenn Du das herausgefunden hast, dann studiere auch nur diese Minimalanforderungen. Alle KommilitonInnen aus höheren Semestern werden Dir bestätigen, dass sie in den ersten Semestern viel zu viel belegt haben und bald merkten, was für ein Quatsch das war. Man verzettelt sich einfach zu schnell. Und, ja: Es macht schließlich auch einfach keinen Spaß, wenn man stets 10 Sachen halb machen muss anstatt eine einzige einmal richtig machen zu können.
Konzentriert mitarbeiten
Wenn Du nun nur das „Mindeste“ an Veranstaltungen besuchst, ist es wichtig, dass Du hier auch wirklich mitarbeitest, die Seminare, Kurse und Vorlesungen gut vor- und nachbereitest, damit Du nicht den Anschluss verlierst. Lies also, was als Lektüre empfohlen wird.
Und sage im Plenum auch etwas. Das fällt zwar schwer, aber mit ein wenig Übung und vor allem klärenden Vorgesprächen mit KommilitonInnen und Freunden schaffst du das. Wenn du immer Angst hast, etwas Falsches zu sagen, blockierst du dich von Anfang an selbst und kannst bald vor Anstrengung gar nicht mehr denken. Dabei weiß doch niemand, was „das Richtige“ oder Falsche ist, außer, dass es bedeutet, besser als die anderen zu sein. Diese Art Konkurrenz macht aber alles grundlegend kapput.
Arbeitsgruppenmitarbeit
Wenn das mit dem Reden im Plenum nicht klappt – kein Problem. Und eigentlich auch verständlich, weil es da wirklich schwer fällt, offen und ehrlich über seine Gedanken und Gefühle zu reden, ohne zu denken, dass man sich „gut darstellen“ muss.
Was wichtiger ist als das Plenum, ist, dass du in der Seminararbeitsgruppe (oder, und ebenso gut, in einer selbst gegründeten) mitdiskutierst. Sieh zu, dass ihr euch mindestens einmal die Woche trefft, dass ihr mehrere Stunden Zeit habt, um zu reden – und zwar sowohl über die Arbeit am Fach als auch und vor allem über Persönliches und Allgemeines.
Besprecht bereits am Anfang eurer gemeinsamen Arbeit, was ihr jeweils von der Arbeitsgruppe erwartet. Mach dir selbst und den anderen deine eigene Zielsetzung klar. Und wenn es da erhebliche unterschiede zwischen euch gibt, dann teilt die Gruppe lieber noch einmal auf.
Und bei aller Arbeit am Stoff vergesst eines nicht: Ihr seid keine Akkordarbeitsgruppe zur Erlangung eines Scheines oder zum Beeindrucken eines Professors oder so. Ihr wollt zusammen Probleme lösen, die euch interessieren. Dazu müsst ihr aber auch über euch selbst reden und dürft euch nicht nur hinter dem Stoff verstecken. Schon in der ersten Sitzung solltet ihr in einer Kneipe reihum über euch selbst erzählen. Im weiteren Verlauf müsst ihr dann mit Vorrang über Schwierigkeiten in der Gruppe, Aggressionen, Konkurrenzgefühle etc. reden.
Studienkollektiv
Wenn ihr so vorgeht und euch die gemeinsame Arbeit weiterbringt und gefällt, dann wird aus euch vielleicht sogar ein Studienkollektiv. Das bedeutet, ihr lauft nicht nach diesem ersten Semester gleich wieder auseinander, sondern überlegt euch gemeinsam, welche Veranstaltungen ihr im folgenden Semester besuchen wollt und bearbeitet eure Studienprobleme und auch politischen Fragestellungen über längere Zeit gemeinsam.
Neues Lebensumfeld kennen lernen
Wenn du den Rat mit den wenigen Scheinen und Minimalanforderungen befolgt hast, wirst du im ersten Semester womöglich wirklich die Zeit finden, deine neue Lebensumgebung, die Hochschule oder Universität, ein wenig kennen zu lernen; das schaffen wirklich nicht viele Studierende.
Lass deiner Neugier auch wirklich freien Lauf! Setz Dich auch einmal in Seminare von anderen Fakultäten und Fachrichtungen hinein. Wenn Du sagst, dass es Dich interessiert, wirft man dich ziemlich sicher auch nicht einfach hinaus. So kannst du dir ein Bild davon machen, was sich hinter den Abkürzungen und großen Sprüchen der anderen verbirgt (meistens nämlich nicht viel) – und bringst auch neue, spannende Ideen mit in deine Arbeitsgruppe bzw. dein Studienkollektiv mit ein.
Und Du merkst auch, mit welchen Dozenten du vielleicht gern einmal was machen würdest, bei welchen du – in der eigenen oder einer anderen Fakultät – wirklich „gern“ einmal ein Seminar besuchen würdest.
Zudem hast Du so Zeit gewonnen, an Dingen wie Bibliotheksführungen teilzunehmen, an Veranstaltungen der politischen Gruppen teilzunehmen und vielleicht auch und insbesondere dort neue Freunde wie auch ein Betätigungsfeld zu finden – oder beispielsweise beim Hochschulsport etwas Fitness zu treiben.
Politisch werden
Wenn Du all diese Tipps beherzigst – wahrscheinlich aber auch, wenn du dies nicht tust -, wird Dir nach einiger Zeit an der Hochschule und besonders in den Gesprächen mit deinen KommilitonInnen, in deiner Arbeitsgruppe oder sonst wo, auffallen, dass alle immer Angst haben, etwas Falsches zu sagen, dass viele Professoren wirklich schlechte Veranstaltungen machen und auch, dass es strukturell große Probleme in den Hochschulen gibt.
Hiergegen hilft dann nicht wirklich viel. Einiges kannst du dennoch dagegen tun: Zuerst einmal durchschaue den Uni-Bluff – und realisiere, dass der Konkurrenzdruck ein strukturelles Problem ist und nicht Du hier falsch oder dumm oder fehl am Platz bist, wenn du dich ungut oder überfordert fühlst! Und zum zweiten: Rede in den Zusammenhängen, die du hierfür hast, immer wieder auch über deine Gefühle und die Dinge, die dich an den Seminaren stören. Vielleicht gründet ihr eine politische Gruppe, kandidiert für Hochschulgremien – oder schreibst bspw. Vorlesungsrezensionen für die Studierendenzeitung. All dies ist dringend notwendig in dieser, unserer Zeit. Nicht nur, aber auch: Als intellektuelle Selbstverteidigung für dich selbst.
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