HoPo-HintergrundBildungsmusterland Finnland?
Aus Finnland berichtet Jens Wernicke
Spätestens „seit PISA1“ und dem schlechten Abschneiden Deutschlands wird – wieder einmal – davon geredet, dass sich etwas tun müsse in Deutschlands Bildungssystem. Und zwar vom Kindergarten bis zu den Hochschulen. Was aber genau, darüber sind sich die BildungspolitikerInnen weniger einig denn je.
Ein Blick nach Finnland als einem „PISA-Primus“ lohnt daher durchaus – auch in Bezug auf die Studienfinanzierung als einem Mittel, die Studierendenzahl zu erhöhen. Und das ist laut Koalitionsvertrag Ziel der aktuellen Bundesregierung. Genauso wichtig ist aber auch ein kritischer Blick auf die Aussagekraft der Ergebnisse von Bildungsrankings wie PISA.
Studienfinanzierung in Finnland
Interessant ist der Blick auf das Finanzierungssystem in Finnland deswegen, weil es Finnland damit gelingt, die Bildungsbeteiligung aller sozialen Schichten auf ein relativ hohes Niveau zu bringen. So zeigt bspw. die Studie Eurostudent 2005 (Studis Online berichtete), dass auch in Finnland – wie in praktisch allen Ländern – Kinder von Arbeitern eine geringere Studierneigung haben, aber trotzdem die Beteiligung fast doppelt so hoch wie in Deutschland ist.
In Deutschland zeigt sich, dass bei deutlichen Verbesserungen des BAföGs die Studierneigung von Arbeiterkindern steigt (vgl. unseren Artikel zur DSW-Sozialerhebung) – trotzdem konnte das BAföG noch nie eine so hohe Beteiligung wie in Finnland erzeugen. Hinzu kommt, dass das BAföG zunehmend eine Art Mittelstandsloch erzeugt, die Freibeträge offenbar also zu niedrig sind und so nur Kinder aus sehr finanzschwachen Familien ausreichend (mit Höchstsatz) gefördert werden.
Anders als in Deutschland unterstützt der finnische Staat seine Studierenden nicht vermittels BAföG, das zur Hälfte als Darlehen gewährt wird, sondern vermittels einer Art Bildungsgeldes2, das zu 100% eine Subventionierung darstellt und dessen Höhe durch Alter, Schultyp, Wohnart und Ehestatus der Studierenden mit beeinflusst wird. Auch wird eigenes wie unter bestimmten Umständen das Einkommen der Eltern zur Berechnung dieser staatlichen Unterstützung mit herangezogen.3
Die Möglichkeit, dieses Bildungsgeld zu erhalten, genießt jeder finnische Staatsbürger, der das 17. Lebensjahr beendet hat und mindestens 8 Wochen pro Jahr Vollzeit an einer Volkshochschule, Hochschule, Berufsschule oder vermittels des so genannten zweiten Bildungsweges „studiert“.
Eine allein lebende 20jährige konnte hierdurch im Jahr 2005 vom finnischen Staat 213,60 Euro Unterstützung erhalten, wenn sie an einer „Secondary School“ und 259,01 Euro, wenn sie an einer Hochschule studierte. Zudem hatte sie die Möglichkeit, bis zu 201,60 Euro pro Monat an Wohnzuschuss, welcher jedoch nur unter gewissen Bedingungen gewährt und maximal 80% der Miete abdecken darf, zu erhalten. Zusätzlich besteht die Möglichkeit, einen Bildungskredit in Höhe von maximal 300 Euro pro Monat aufzunehmen. Für diesen übernimmt der finnische Staat die Ausfallbürgschaft.
Die maximale Unterstützung beläuft sich somit auf 760,61 Euro – von welchen 300 als Kredit geleistet werden. Das Bildungsgeld wird jedoch ausschließlich 9 von 12 Monaten im Studienjahr bzw. 5 von 6 Monate pro Studiensemester gewährt – und dies bis zum Ende der Regelstudienzeit eines konsekutiven Abschlusses (Masters) plus 10 Monate.
Wer diese Unterstützungsleistungen mit Deutschland vergleicht, dem wird auffallen, dass Bildungsgeld plus -kredit und potentieller Wohnunterstützung höher als unser BAföG-Höchstsatz sind, sich jedoch ähnlich zusammensetzen. Positiv am finnischen Ansatz ist, dass viel mehr Studierende (71% gegenüber 23%4) als in Deutschland gefördert werden, da die Bemessensgrenzen viel großzügiger ausgestaltet sind. Erhält man bspw. für 9 Monate pro Studienjahr Unterstützung, ist es erlaubt, bis zu 9.090 Euro in diesem Jahr hinzuzuverdienen.
Negativ ist anzumerken, dass die Bedingungen, die zu erfüllen sind, um in den Genuss solch staatlicher Leistungen zu kommen, in den letzten Jahren zunehmend verschärft worden sind (mehr zu erbringende ECTS-Punkte pro Semester etc.) und dass auch hier kaum ein Studierender mit dem Geld, welches er oder sie erhält, auszukommen vermag, sondern, unter anderem da die Lebenshaltungskosten hier bei weitem höher als in den meisten Teilen Deutschlands sind, viele auf Zuverdienste angewiesen sind.
So setzt sich laut „Eurostudent Report 2005“5 das studentische Einkommen deutscher Studierender aus 51% familiärer Unterstützung, 27% Nebenverdienst, 13% staatlicher Unterstützung und 9% sonstigen Einnahmen zusammen, während finnische Studierende sich und ihr Studium vermittels 11% familiärer Unterstützung, 52% Nebenverdienst, 30% staatlicher Unterstützung und 7% sonstigen Einnahmen finanzieren; in Deutschland sind 66%, in Finnland 65% der Studierenden auf Nebenverdienste angewiesen.6
Dennoch: In Finnland funktioniert all dies ganz ohne Gebühren. Mehr noch: Anders als in Deutschland wird hier nicht einmal über so genannte „allgemeine Studiengebühren“ diskutiert – und dies, „obwohl“ es mit seinem – vor Jahren bei der DDR entlehnten – Bildungssystem eines der Bildungsvorzeigeländer nicht nur Europas ist.
Bildungsrankings und ihre Aussagekraft
Doch was bedeutet es eigentlich, wenn in den Medien von „Bildungsrankings“ die Rede ist, die PISA-Studie besprochen wird und ähnliches? Was bedeutet es, dass die „Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung“ (OECD), deren satzungsgemäße Ziele es unter anderem sind, für eine optimale Wirtschaftsentwicklung und eine Ausweitung des Welthandels zu sorgen, nationale Bildungssysteme vergleicht?
Tatsächlich hat die PISA-Studie, deren Ziel es ist, die alltagsrelevanten Kenntnisse 15-jähriger Schülerinnen und Schüler zu messen, in Finnland – ebenso wie Japan und Südkorea – einen „Sieger“ ausgemacht. Und tatsächlich hat das finnische Bildungssystem einige Stärken, die bemerkenswert sind.
Die Schulen in Finnland können sehr autonom handeln und unterliegen zugleich einer wirkungsvollen Qualitätskontrolle. Statt detaillierte Lehrpläne vorzuschreiben, beschränkt sich die finnische Bildungsbürokratie darauf, Lernziele vorzugeben und landesweite Tests zu erarbeiten, mit denen überprüft wird, wie gut die Ziele erreicht wurden. Außerdem werden die Schulen anders finanziert; mit der höchsten Kapitalgewinn-Steuerbelastung, hat Finnland als einziges Land in Europa auch keine Milliardäre, dafür sehr hohe Unternehmensumsätze und damit Steuereinnahmen für staatliche Ausgaben.7
Was jedoch neben anderer berechtigter Kritik8 an dieser Studie viel zu oft medial verloren geht, ist die Tatsache, dass hier ausschließlich „Leistung“ gemessen wird – und somit herzlich wenig über Kinder und Jugendliche sowie deren Lernbedingungen ausgesagt ist, was nicht nur die Tatsache aufzeigt, dass in Japan und Südkorea die weltweit höchste Selbstmordrate unter Schülerinnen und Schülern herrscht.9
Dass auch in Finnland nicht alles Gold ist, was glänzt, ergab die „Yliopisto-opiskelijoiden terveystutkimus 2004“10 (eine Gesundheitsuntersuchung unter Universitätsstudierenden). Ihr zufolge leiden 19% der männlichen und 30% der weiblichen Studierenden an psychischen Problemen. Die am meisten genannten Probleme sind hierbei: Ständige Überarbeitung; Gefühle von Unglück; Depression; die Unfähigkeit, sich zu konzentrieren. Ein Drittel aller Studierenden hat sich im Laufe des letzten Semesters vor der Befragung dauerhaft überarbeitet gefühlt. 31% der Befragten fanden die universitäre Unerstützung und die Beratungsangebote mangelhaft; 17% empfanden sie als völlig unzulänglich.
Eines hat der zunehmende Privatisierungsdruck auf Bildungsleistungen in Verbindung mit Finnlands PISA-Renommee (das manche PolitikerInnen meinen auch finanziell nutzen zu müssen) diesem Land aber inzwischen beschert: Eine Debatte über (nicht-allgemeine) Studiengebühren – zuerst für Nicht-EU-BürgerInnen.11
Fußnoten
1 siehe http://www.pisa.oecd.org/
2 siehe http://www.kela.fi/in/internet/liite.nsf/alias/info8epdf/$File/yleisenp.pdf?OpenElement (PDF-Dokument bei archive.org)
3 Zitat aus 2: „If you are under 20 and attending a secondary-level school, your parents' income will affect the amount of aid granted to you (in the case of the housing supplement the age limit is 18). If your parents' combined annual income exceeds €27,300, your study grant and housing supplement are reduced by 5 percent for each €680 in excess of €27,300, and at €40,900 no financial aid is available. Parental income is not taken into account if you are married or have dependants. The parental/spousal income test is normally based on the most recent income data available from the tax authorities.“
4 siehe http://www.his.de/Abt2/Auslandsstudium/Eurostudent/report2005/Downloads/Synopsis%20of%20Indicators/SY (PDF-Dokument bei archive.org), Seite 98 f.
5 siehe 4, Seite 90 f.
6 siehe 4, Seite 126 f.
7 Siehe hierzu auch: https://www.studis-online.de/Studieren/Auslandsstudium/finnland.php und http://www.stellenboersen.de/ausland/laender/finnland/050805interview-paivi-huhtanen.html
8 siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/PISA-Studie#Kritik
9 siehe: http://www.wdr.de/themen/kultur/bildung_und_erziehung/brennpunkt_schule/pisa_co/kritik/aepfel_birnen.jhtml (bei archive.org)
10 Kristina Kunttu ja Teppo Huttunen: Yliopisto-opiskelijoiden terveystutkimus 2004, Helsinki, 2005; zu bestellen unter: http://www.yths.fi/netcomm/viewarticle.asp?path=8,268,270&article=3025
11 siehe: http://www.helsinki.fi/news/archive/9-2005/5-12-51-24
Weiterführende Informationen
- http://de.wikipedia.org/wiki/PISA-Studie
- http://de.wikipedia.org/wiki/OECD
- http://www.his.de/Abt2/Auslandsstudium/Eurostudent/report2005/ (bei archive.org)
- http://www.links-netz.de/K_texte/K_klausenitzer_oecd.html
- http://de.wikipedia.org/wiki/Reproduktion_%28Bildung%29
- http://www.bmbf.de/de/2994.php (Bildung auf einen Blick 2005)
Dieser Artikel-Text ist unter einer Creative Commons-Lizenz (Namensnennung-NichtKommerziell-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 2.0 Deutschland) lizenziert. Unter Namensnennung verstehen wir die Nennung des Autors/der Autorin sowie - in Online-Medien - ein anklickbarer Link auf den Artikel oder www.studis-online.de. Eine kommerzielle Nutzung ist ohne gesonderte Genehmigung ausgeschlossen.
Bitte beachten, dass die Lizenz nur für diesen Artikel-Text und nicht etwa für das ganze Angebot von Studis Online gilt. Nur Artikel, unter denen sich explizit ein solcher Hinweis findet, dürfen im Rahmen der Bedingungen verwendet werden. Es kann bei anderen Artikeln auch von dieser Lizenz abweichende Lizenzen geben, also bitte genau lesen und beachten![/p]