Was sich dahinter verbirgtDie „PISA-Studie“
Ein Kommentar von Jens Wernicke.
Seit dem Jahr 2000 wird im dreijährigen Zyklus in den meisten Mitgliedsstaaten der OECD sowie einer zunehmenden Anzahl von Partnerstaaten das „Programme for International Student Asessment“ (PISA) durchgeführt. Und zwar von der OECD, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung mit Sitz in Paris. Ziel dieses Programms ist es, die alltagsrelevanten Kenntnisse und Fähigkeiten 15-jähriger Schülerinnen und Schüler zu messen.
PISA besteht aus der Studie PISA-I (für International) sowie einigen Erweiterungsstudien - in und für Deutschland PISA-E (für Erweiterung) genannt. PISA ist also mehr als nur „die“ eine Studie, es sind mehrere.
Jede PISA(-I)-Studie umfasst drei Bereiche: Lesekompetenz, Mathematik und Naturwissenschaften. Bei jedem Durchgang wird ein Bereich vertieft untersucht. 2000 war es die Lesekompetenz, 2003 die Mathematik – und 2006 werden es die Naturwissenschaften sein. Dieser Zyklus soll alle neun Jahre wiederholt werden – PISA beginnt also stets wieder von vorn.
Medienrezeption
Wie in anderen Teilnahmestaaten auch hat die Veröffentlichung einzelner Ergebnisse von PISA in Deutschland großes Medienecho ausgelöst.
Von PISA-I gelangte an die Öffentlichkeit mehr oder minder differenziert fast ausschließlich eine Art „Ranking“ (siehe Tabelle 1), dem zu entnehmen war, dass Deutschland „weit abgeschlagen“ einen der hinteren Plätze im „Bildungswettbewerb“ einnimmt.
Tabelle 1 (übernommen von de.wikipedia.org)
Die Länder sind mit Studis Online-Artikel zum Studium im jeweiligen Land (oder bei Finnland mit einem speziellen Artikel zum Bildungssystem) verlinkt oder – wenn wir keine Artikel zum jeweiligen Land haben – mit einem Wikipedia-Artikel. In den Tabellen werden die jeweils laut PISA sechs „besten“ Länder sowie im weiteren Länder mit relevanter deutschsprachiger Bevölkerung aufgelistet.
Mathematik | Lesefähigkeit | Naturwissenschaften | ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
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Dieses „Ranking“ wurde zwar unterschiedlich interpretiert, selten jedoch wurde es als solches medial in Frage gestellt. Und das, obwohl es doch mehr Fragen aufwirft als dass es Antworten gibt.
Einige dieser Fragen sind beispielsweise:
1. Wer ist eigentlich verantwortlich für diese Studie? Welche Eigeninteressen vertritt die entsprechende Institution?
PISA wird, wie gesagt, unter der Schirmherrschaft der OECD durchgeführt. Interessant hieran ist unter anderem, dass satzungsgemäße Ziele eben dieser Organisation unter anderem eine optimale Wirtschaftsentwicklung, eine Förderung des Wirtschaftswachstums sowie eine Ausbreitung des Welthandels sind. Herzlich wenig also, das mit „Bildung“ zu tun hat.
2. Welche Kriterien werden zugrunde gelegt? Was misst die Studie, was nicht?
Ganz in diesem Sinne misst PISA dann auch ausschließlich „skills“, die arbeitsmarktrelevant zu nennen sind: Mathematik, Lesekompetenz, Naturwissenschaften. Nicht soziale Kompetenz, Einfühlungsvermögen oder anderes.
Auch ist die „Leistungsfähigkeit“ in den PISA-Studien so konstruiert, dass sie „normalverteilt“ ist, was bedeutet: Egal, wie (relativ) „gut“ alle sind – es sind stets nur sehr wenige „exzellent“ oder „versagen“ vollends. Eine Leistungsmessung also ohne Relation. Würden sich alle „verbessern“, gäbe es nach wie vor „Gewinner“ und „Verlierer“ auf diese Art.
Generell stellt sich zudem die Frage, was „Leistung“ eigentlich bedeuten soll. Letztlich ist einem solchen Ranking nämlich nicht viel mehr zu entnehmen als dass: Menschen eben unterschiedlich sind. Der eine lernt langsam, der andere schneller – und dies auch noch von Stoff zu Stoff und Lehrmethode zu Lehrmethode vollends unterschiedlich. Meint: Man könnte ebenso davon ausgehen, dass alle Menschen „gleich gut“, also klug sind – und ihr Lernvermögen zu allererst durch ihr (soziales) Umfeld, ihre Motivation, die gewählte Pädagogik und den zu lernenden Stoff determiniert sind.
Auch stellt sich die Frage, ob es eigentlich ein erstrebenswertes Ziel ist, in solcher Art „Ranking“ eine Führungsposition einzunehmen. Generell wäre nämlich (hierzu später mehr) gut vorstellbar, dass Schüler und Schülerinnen in ihren Schulen einfach hartem Drill unterzogen werden – und hierdurch „gute Ergebnisse“ erbringen. Etwas, das sicher wenig im Interesse der Betroffen selbst ist. Bei den „PISA-Siegern“ Japan und Korea ist dies beispielsweise der Fall: Hier gibt es harte „Pauk-Schulen“, deren autoritäre Methoden nicht einmal mit dem deutschen Grundgesetz vereinbar wären sowie die höchste Selbstmordrate unter Schülerinnen und Schülern weltweit (vgl. „Kritik an PISA-Studie“ des WDR).
3. Wer wird in eine solche Untersuchung einbezogen, wer nicht?
PISA untersucht die Leistungsfähigkeit aller 15-jährigen im staatlichen Schulsystem. Was aber, wenn von allen 15-jährigen nur sehr wenige überhaupt solcherlei Bildung erhalten? Das „Ranking“ in Tabelle 1 könnte hier beispielsweise ergeben, dass ein Land herausragend leistungsfähige Schülerinnen und Schüler hervorbringt; völlig abgesehen davon, dass dies womöglich nur einen kleinen Teil der tatsächlich in diesem Land lebenden 15-jährigen Jugendlichen betrifft.
4. Was sind die Konsequenzen aus einer Veröffentlichung dieser Art – sowie und vor allem ihrer Rezeption?
So wie die Ergebnisse aus PISA bisher in den deutschen Medien besprochen werden, läuft dies – scharfe oder wohlmeinende Kritik in allen Ehren – vor allem auf eines hinaus: Eine Art „Standortwettbewerb“ unter verschiedenen Ländern, eben, wie bereits gesagt, ohne Relation (einer ist stets „der Beste“, egal, wie „gut“ alle eigentlich sind), ohne Beantwortung der Frage, was Bildung vielleicht auch mehr ist als Naturwissenschaften, Mathematik und Lesekompetenz, und auch ohne Berücksichtigung des Befindens und der Interessen der Schülerinnen und Schüler an sich.
Die Medienwirkungen auf PISA in Deutschland befördern also zuallererst eins: Einen stetigen, großteils unreflektierten, Reformdruck auf das Bildungssystem – gemessen an den vermeintlichen „Siegern“, obwohl mensch über eben jene doch meist kaum etwas weiß. Hiermit verstärkt sich auch ein Denken in Kategorien von „Standort“ und „Konkurrenz“ - beides Dinge, die „Lernen“ (und vor allem Verstehen) eher abträglich sind.
PISA-Erweiterungsstudie
Interessanter und – in unserem Sinne – „aussagekräftiger“ als die Ergebnisse von PISA-I waren hierzulande die Ergebnisse der deutschen Erweiterungsstudie PISA-E, die in ihrer vollen Brisanz leider viel zu oberflächlich und wenig in den Medien besprochen worden sind.
Ziel von PISA-E (war und) ist eine Analyse des möglichen Einflusses von äußeren Faktoren wie des Schulsystems des jeweiligen Bundeslandes, der Lehrplangestaltung, der Zusammensetzung der Klassen sowie des familiären Umfelds der Schülerinnen und Schüler auf deren „Leistungsfähigkeit“ (wobei die bisher geäußerte Kritik an eben diesem Konzept durchaus bestehen bleibt).
Der am 2. November 2005 vorgelegte „Ländervergleich“ (siehe Tabelle 2) von PISA-E fasst die relevante Wahrscheinlichkeit für einen Gymnasialbesuch nach der sozialen Herkunft tabellarisch zusammen.
Tabelle 2 (übernommen von de.wikipedia.org; teilweise sind eigene Berechnungen beruhend auf den PISA-Auswertungen enthalten)
Die relative Wahrscheinlichkeit von Akademikerkindern gegenüber den Facharbeiterkindern für einen Gymnasialbesuch (Die Wahrscheinlichkeit von Akademikerkindern ist x-mal so hoch gegenüber Facharbeiterkindern) | Die relative Wahrscheinlichkeit von Akademikerkindern gegenüber Kindern aus dem „traditionslosen Arbeitermilieu“ für einen Gymnasialbesuch (Die Wahrscheinlichkeit von Akademikerkindern ist x-mal so hoch gegenüber Kindern aus dem „traditionslosen Arbeitermilieu“) | |||
Land | insgesamt | bei gleicher Lese- und Mathematikkompetenz | insgesamt | bei gleicher Lese- und Mathematikkompetenz |
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Baden-Württemberg | 8.41 | 4.40 | 24.03 | 6.77 |
Bayern | 7.77 | 6.65 | 15.24 | 7.15 |
Berlin | 4.45 | 2.67 | 13.09 | 3.38 |
Brandenburg | 3.71 | 2.38 | 8.43 | 2.83 |
Bremen | 9.06 | 2.83 | 16.47 | 2.7 |
Hamburg | 7.53 | 3.55 | 25.1 | 6.23 |
Hessen | 5.70 | 2.71 | 11.4 | 3.35 |
Mecklenburg-Vorpommern | 7.96 | 3.47 | 25.68 | 6.94 |
Niedersachsen | 6.45 | 2.63 | 16.13 | 3.6 |
Nordrhein-Westfalen | 8.07 | 4.35 | 28.82 | 7.13 |
Saarland | 6.71 | 3.48 | 19.17 | 6.11 |
Sachsen | 4.49 | 2.79 | 12.47 | 4.04 |
Sachsen-Anhalt | 10.44 | 6.16 | 26.77 | 9.06 |
Schleswig-Holstein | 6.24 | 2.88 | 27.13 | 6.4 |
Rheinland-Pfalz | 8.28 | 4.60 | 22.38 | 7.54 |
Thüringen | 5.13 | 3.23 | 14.25 | 5.77 |
Deutschland gesamt | 6.87 | 4.01 | 18.57 | 5.90 |
Ihm zufolge ist die relative Wahrscheinlichkeit eines Gymnasialbesuchs für ein Akademikerkind in Deutschland 6,9 mal so hoch wie jene eines Facharbeiterkindes. Und, wohl gemerkt: Selbst bei gleicher individueller Lese- und Mathematikkompetenz beträgt dieses Verhältnis noch 4 zu 1.
(Ab hier wird auch deutlich, warum das Denken in „Leistung“ an sich absurd ist: Einen Schüler aus dem Arbeitermillieu einem aus einem Akademikerelternhaus gegenüberzustellen und zu behaupten, bei gleichen Fähigkeiten hätten diese gleiche „Leistungen“ erbracht, seien „gleich“, entspricht vielmehr in etwa der Behauptung, eine Schildkröte gegen einen Puma im 100-Meter-Lauf antreten zu lassen wäre für beide ja „chancengleich“. Vielmehr verhält es sich so, dass die soziale Herkunft bereits eine Bevor- bzw. Benachteiligung der entsprechenden Schülerinnen und Schüler wiederspiegelt, da in Akademikerelternhäusern ein gänzlich anderes Verhältnis zu „Lernen“, Büchern, Lesen, Wissen etc. vorherrscht als in Arbeiterelternhäusern, hier also völlig unterschiedliche Selbstverständnisse und Selbstbewusstsein herangebildet werden - und das Kind aus dem Arbeiterelternhaus hier statt eines Vergleichs, der Ungleichheiten negiert, viel mehr eines „Nachteilsausgleichs“, also gezielter individueller Förderung bedürfte. Insofern entspricht die Aussage „bei gleicher Lese- und Mathematikkompetenz“ eher dem Bild einer Schildkröte, die trotz ihrer „Benachteiligung“ – in Bezug auf Geschwindigkeit – genauso schnell zu laufen und rennen gelernt hat wie ein Puma, dennoch jedoch nie Medaillen erhält.)
Allerdings ging das PISA-Konsortium mit Zahlen an die Öffentlichkeit, die keinen Extremgruppenvergleich („oberstes Viertel“ gegen „unterstes Viertel“) heranzogen, sondern das „oberste Viertel“ mit dem Viertel aus der „unteren Mitte“ verglichen. Bei der in den Medien verbreiteten Gegenüberstellung von Akademikerkindern und Facharbeiterkindern konnte so der Eindruck entstehen, dass es sich bereits um einen Extremgruppenvergleich handele.
Dass bei einem derartigen Vergleich jedoch noch weit extremere Werte herauskämen, zeigen die Zahlen für die letzten beiden Spalten in Tabelle 2. In Ermangelung eines Namens für Kinder aus dem „untersten Viertel“ wurde es hier (nicht in der PISA-Auswertung selbst) „traditionsloses Arbeitermilieu“ genannt.
Was folgt?
PISA-E ergab, dass das deutsche Bildungssystem nicht dem Anspruch des Grundgesetzes, niemanden aufgrund seiner sozialen Herkunft zu diskriminieren, gerecht wird; ganz im Gegenteil: es diskriminiert selbst.
Hieraus jedoch zu schlussfolgern, Japan oder Korea, Bayern oder Brandenburg machten es „besser“, wäre mehr als nur ein kleiner Fauxpas.
Worum es bei der Rezeption zukünftiger Studien vielmehr gehen muss, sind und bleiben Fragen wie: Was ist „Leistung“ eigentlich? Welche ist wichtig? Und um welchen Preis? Wer entscheidet hierüber – und wer eben auch nicht? Wie wird Bildung in erster Linie einmal den Schülerinnen und Schülern selbst sowie deren je unterschiedlichen Lernstilen gerecht? Sowie und vor allem: Was muss getan werden, damit jeder und jede endlich gleiche Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe in unserem Lande hat?
Und last, but not least: Wofür eigentlich lernen wir?
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