Der Mythos von der ChancengerechtigkeitWas PISA mit sozialer Selektion mit Benotung mit Leistungsideologie zu tun hat
Eine Einführung in die Notenkritik von Jens Wernicke.
Eine der Grundannahmen der Gesellschaft, in der wir leben, ist und war stets: Wer nur bereit ist, Leistung zu erbringen, der oder die brächte es auch zu was. Mühe, Engagement und Fleiß zahlten sich aus.
Dass dieser Gedanke längst als Mythos (vgl. Michael Hartmann – siehe auch Literaturliste am Ende des Artikels) zu Grabe getragen gehört, bewies nicht zuletzt die PISA-Erweiterungsstudie für Deutschland. Ihr zufolge ist die relative Wahrscheinlichkeit eines Gymnasialbesuchs für ein Akademikerkind in Deutschland 6,9 mal so hoch wie jene eines Facharbeiterkindes. Und, wohl gemerkt: Selbst bei gleicher individueller Lese- und Mathematikkompetenz beträgt dieses Verhältnis noch 4 zu 1 (siehe hierzu den Studis Online-Artikel „Die 'PISA-Studie': Was sich dahinter verbirgt“).
Fleiß also, könnte mensch meinen – und unlängst gut begründen – zahlt sich nicht, zumindest nicht für jeden und jede in unserer Gesellschaft aus. Ganz im Gegenteil: Mittels der vordergründigen Ideologie von „Leistungsgerechtigkeit“ reproduziert und verschärft sich (hintergründig und unbemerkt) gesellschaftliche Ungleichheit. Sozial benachteiligte junge Menschen erhalten eben trotz guter bzw. adäquater Leistungen faktisch schlechtere Beurteilungen als sozial „Höhergestellte“, wodurch ihnen schließlich – und im festen Glauben daran, die Messinstrumente des Bildungswesens hätten mit sozialer Herkunft, Habitus und dergleichen nichts gemein, wären also „objektiv“ und gerecht – in überwiegender Mehrheit die gesellschaftlichen Positionen ihrer Eltern weiter-'vererbt' werden (können).
Doch, Moment, denken Sie, das kann ja nicht sein? Das bedeutete ja, das (hoch-)schulische Bewertungssystem mache sich doch mit sozialer Selektion gemein, sortiere nicht nach Leistung – sondern sozial?
Leistung ist … was? Verstehen ist es nicht
Um dieser These nach- und ihrer Richtigkeit auf den Grund zu gehen, werfen wir einmal einen genaueren Blick auf das schulische (und in großen Teilen auch: hochschulische) Benotungssystem.
Wie und warum kommt eigentlich jemand auf die Idee, gelerntes Wissen – also Qualität – in einer Zahl – also Quantität – zum Ausdruck bringen zu wollen? Beim Cello-Lernen braucht mensch doch auch keine Zensur: „Wenn man [...] [hier] Fehler macht, wird einem dieser Fehler erklärt, damit man [...] [ihn] beseitigen kann. Man beseitigt also [...] Fehler und als Resultat hat man dann gelernt, die Bach-Suite zu spielen. Was soll da die Note?! Schließlich will man [...] etwas verstehen bzw. sich eine bestimmte Spieltechnik aneignen, und darüber sagt eine Note gar nichts aus. […] Für den konkreten Lerninhalt tut die Note also gar nichts zur Sache. Warum hält sie dann jeder für selbstverständlich, sobald es um schulisches Lernen geht? Und wenn die Note dem Lerninhalt äußerlich ist, warum gibt es sie dann überhaupt?“ (ag wissenschaftliche kritik, S. 6).
Sehen wir uns dies einmal am Beispiel einer schulischen Klassenarbeit an: Ein bestimmtes Thema wird im Unterricht durchgenommen und soll gelernt werden. Ab und an lässt der Lehrer oder die Lehrerin Klassenarbeiten schreiben, in denen er „das Gelernte abfragen“ will. Doch die Klassenarbeit ist in Wirklichkeit gar keine Lernerfolgskontrolle. Der oder die Lehrende ist sich ja gar nicht unsicher, ob ihm der eine oder andere Mangel bei den Schülerinnen und Schülern entgangen ist, sondern hat vielmehr die Gewissheit, dass in der Klasse nach dem Durchnehmen des Stoffs noch eine ganze Menge Unkenntnis besteht; es ist schulischer Usus, ein Thema nicht dann abzuschließen, wenn es jeder und jede verstanden hat, sondern die Behandlung des Stoffs vorher abzubrechen: Völlig unabhängig vom Kenntnisstand, vom Lerntempo, von den unterschiedlichen Interessen, den besonderen Lernproblemen und Schwierigkeiten der Schülerinnen und Schüler ist im Lehrplan, der den Lehrenden vom Staat vorgeschrieben wird, festgelegt, dass in einer bestimmten Zeit eine bestimmte Stoffmenge „durchgenommen“ werden muss.
Auf diese Weise wird Wissen zu einem ihm völlig äußerlichen Kriterium ins Verhältnis gesetzt: der Zeit. Denn: Wenn nach dem Schreiben der Klassenarbeiten das Thema bzw. die Lernphase bewusst ab- und zu neuen Ufern aufgebrochen wird, dann interessiert Lernen nur soweit, wie es eine Leistungsverausgabung darstellt: Lernen in Zeit ist dann die geforderte Leistung – nicht Lernen, Verstehen an sich.
Soziale und individuelle Unterschiede werden „gleichgemacht“
Diese „Gleichbehandlung“ aller Schülerinnen und Schüler (gleicher „Stoff“ in gleicher Zeit) sieht von den Unterschieden derselben vollkommen ab: Ob sich jemand für das Thema interessiert, ob jemand Nachhilfe bekommt oder Eltern hat, die ihm oder ihr die Hausarbeiten erklären oder eben eine „positiv“ besetzte Einstellung zum Lernen sowie ggf. „Lerndisziplin“ vermitteln, bleibt völlig außer acht. (Ganz abgesehen davon, dass selbst Schülerinnen und Schüler, die über je äquivalente Motivation, eine ihre Schwächen und Benachteiligungen berücksichtigende und auszugleichen versuchende individuelle Förderung sowie gleich hohe „Diszipliniertheit“ verfügten, selbstverständlich dennoch – durch sozialisationsbedingt verschiedene Einstellungen, Werte und Perspektiven – stets ungleiche Ergebnisse produzierten.)
Da die Schülerinnen und Schüler jedoch verschiedenen Motivationen und Einstellungen zum jeweiligen „Stoff“ sowie eben verschiedene Lerntempi haben, ist es notwendige Folge einer solchen Gleichbehandlung, dass sie am Ende der jeweiligen Einheiten auch über verschiedene Wissensstände verfügen.
Statt Hilfe zu leisten werden folgenschwere „Urteile“ gefällt
„Der Unterschied im Wissensstand, der dann in der Klausur deutlich wird, ist somit ein Resultat der Gleichbehandlung der ungleich schnellen Schüler. Auf diese Art werden Unterschiede im Wissen der Schüler hergestellt, die in der Note dokumentiert werden. An dieser Stelle zeigt sich schon, dass es nicht darum geht, dass alle Schüler den Gegenstand, der da im Unterricht erklärt wird, begreifen sollen, sonst würde wohl kaum der Lernprozess abgebrochen, bevor alle den Stoff begriffen haben“ (ebd., S. 7).
Die Herstellung solcher Leistungsunterschiede ist kein unglücklicher Zufall, sondern politisch beabsichtigt: Denn die Klassenarbeit ist gar nicht der Auftakt, die Teile des Unterrichts, die von einzelnen nicht verstanden wurden, mit diesen zu wiederholen und nachzuarbeiten, damit sie denn Stoff dann auch verstehen. Der oder die Lehrende konstruiert die Klassenarbeit also gar nicht als Rückmeldung über die Mängel im Wissen der Schülerinnen und Schüler, um dann genauer auf diese Mängel einzugehen. Und der Schüler oder die Schülerin muss sich zwar der Berichtigung seiner oder ihrer Fehler widmen, aber erstens geht dann die nächste Unterrichteseinheit los, womit die Zeit zu einer gründlichen Beschäftigung mit den Fehlern gar nicht reicht. Und zweitens bekommt er oder sie, so es geschafft wird, das Thema nachträglich zu verstehen im Nachhinein ja doch keine bessere Note verpasst. „Daran sieht man, dass Schule nicht gerade eine freundliche Angelegenheit für jemanden ist, der dort [wirklich] etwas lernen will“ (ebd.).
Auch die Prüfungen finden erneut unter Zeitdruck statt. Auf die Schülerinnen und Schüler kommt nun die zusätzliche Aufgabe hinzu, das Gelernte in bestimmter Zeit zu reproduzieren. Sie sind dadurch mit einer neuen Unwägbarkeit konfrontiert; so mancher und manche nämlich, der oder die den Stoff halbwegs durchdrungen hatte, gerät nun unter dem Zeitdruck der Prüfung sowie dem „Darstellungszwang“ erneut ins Schleudern. Eine weitere Fehlerquelle schlägt zu und produziert Unterschiede in der Benotung.
Diese erfolgt schließlich, indem als erstes die qualitativ verschiedenen Fehler quantitativ einander gleich gemacht werden, so dass mensch am Ende eine Anzahl abstrakt gleicher und daher vergleichbarer Fehler erhält und bspw. – aus welchen Gründen auch immer – zwei Rechtschreibfehler „genauso falsch“ wie der Bruch einer logischen Argumentation geworden sind. Eine Antwort auf die Frage, was mensch warum falsch gemach hat, gibt es hingegen nicht.
„Relative“ Benotung bar objektiver Maßstäbe ist per se Selektion
Hiernach werden die „Leistungen“ der Schülerinnen und Schüler (hier verstanden als Anzahl gemachter bzw. nicht gemachter Fehler) so gut als möglich nach Gauß'scher Normalverteilung (Glockenkurve: dicke Mitte und dünne Extreme; siehe Abbildung 1) gewichtet und in die Notenskala von 1 bis 6 einsortiert. Diese Vorgabe bezieht sich jedoch auf die Gesamtverteilung der in der Klasse erbrachten Leistungen, was sowohl Mühe als auch auf- und eingebrachtes Wissen jeder und jedes Einzelnen – im Wortsinne – entwertet und „relativ“ macht: Egal nämlich, wie viel jeder und jede einzelne gelernt (und womöglich verstanden) haben mag, qua Normalverteilung darf (und wird) es stets nur wenige sehr gute und wenige sehr schlechte Schülerinnen und Schüler geben, während das Gros derselben befriedigende Leistungen erbringt.
Abbildung 1:
„Normalverteilung“ nach Gauß
entsprechend Noten A 10%, B 25%, C 35%, D 25%, E 10%
(entnommen einem UNiMUT-Artikel)
Konkret bedeutet dies: Wenn ich mich in einer Lerngruppe befinde, in der die Schülerinnen und Schüler zwischen sechs und fünfzig Fehler gemacht haben, habe ich mit sechs Fehlern eine „sehr gute“ Leistung erbracht. Hätte die gleiche Gruppe hingegen null bis sechs Fehler gemacht, wäre meine Note mit sechs Fehlern ein „mangelhaft“ oder „ungenügend“.
Oder, um ein anderes Schlaglicht zu werfen: Hat der Lehrer oder die Lehrerin „einmal ein Thema so ausführlich erklärt, [...] dass alle Schüler es verstanden haben und unter normalen Bedingungen in der nächsten Klausur eine 1 schreiben würden, so muss er [oder sie] z.B. die Zeit, die für die Klausur angesetzt ist, verkürzen bzw. mehr Aufgaben in derselben Zeit den Schülern aufs Auge drücken, so dass wieder nur die flinkesten Schüler alles schaffen. So wird sichergestellt, dass über die Gleichbehandlung aller auf keinen Fall sich bei allen dasselbe Resultat herausstellt: Schließlich heißt Chancengleichheit nicht Resultategleichheit, sondern soll vielmehr eine Konkurrenz ins Werk setzen, die Gewinner und Verlierer produziert“ (ebd., S. 9).
Quod erat demonstrandum:
Das Notensystem hat mit Leistungsmessung wenig zu tun
Stellen wir also zusammenfassend fest:
Die Institution Schule organisiert Lernen (und versteht Leistung) als Wissen pro Zeit unter den Bedingungen gegenseitiger Konkurrenz – was für Lernen und Verstehen jeweils intentional abträglich ist.
Qua Notenvergabe, welche der Normalverteilung unterliegt, bürgt sie zudem dafür, dass lediglich für einige wenige Schülerinnen und Schüler „sehr gute“ Leistungen überhaupt möglich sind. Für die überwiegende Mehrheit derselben wird sie zwingend zum Separationsinstrument – relativ unabhängig davon, welche Leistungen diese Mehrheit erbringt.
Die Bewertung mittels Noten begründet sich nicht aus Leistung, sondern „bedient“ sich derselben nur; Leistung ist also zwar (unterstellte; siehe hierzu das Nachwort) Voraussetzung, nicht aber Garant für gute Noten und schulischen „Erfolg“ – sowie darüber hinaus als „relativ“ definiert, da sie sich stets an der vorhandenen Gesamtverteilung bemisst.
Ergo: Da Schule mittels Notenvergabe ungleiche Menschen unter gleiche Bedingungen zwingt, wird nicht nur ein Eingehen auf und Ausgleichen von Unterschieden strukturell unmöglich gemacht, nein, werden vorhandene Bevor- und Benachteiligungen weiter ausgebaut. Eben weil die Notenbewertung relativ ist, wundert es zudem wenig, dass sich leistungsstarke Schülerinnen und Schüler aus sozial „besseren“ Elternhäusern (und tatsächlich hat die „Leistungsstärke“ hier nachweislich – auch – mit der „Herkunft“ zu tun) am oberen Ende der Notenskala wiederzufinden vermögen: Sie lernen und sind in der Regel selbstsicherer, treten selbstbewußter auf und benötigen potentiell kaum je einen „Nachteilsausgleich“ (dafür beispielsweise, dass zu Hause ein lernfeindliches Klima herrscht, Bücher nicht gern gesehen sind, mensch dort nicht vorgelesen bekam etc. pp.).
Ungerechte Urteile zur Legitimation einer ungerechten Welt
Dieser sozial-selektiven Wirkungsmechanismen wird sich jedoch kaum je ein Schüler oder eine Schülerin bewusst. Das liegt vor allem daran, dass mensch dieses System fast unmöglich zu durchschauen vermag (und ja auch nicht durchschauen soll, sorgt es qua Funktion doch für Reproduktion, Legitimation sowie Machterhalt der gesellschaftlichen Eliten), hat es sich doch hinter dem Mythos der „Leistungs- und Chancengerechtigkeit“ perfekt getarnt in Deckung gebracht.
Werden schließlich die Zeugnisse, welche ein gesellschaftlich gültiges Urteil über die „geistige Gesamtperson“ der Absolvierenden zu fällen vorgeben, verteilt, kommen selbige gar nicht umhin, das Urteil dieser als gültiges Urteil über die eigenen Personen anzuerkennen.
Er oder sie muss einsehen und sich darin einrichten, dass das Ganze seiner Neigungen und Abneigungen, Stärken und Schwächen nur soviel „wert“ ist, wie es sich auch als Note herausgestellt hat. Leider jedoch „handelt [es] sich [hierbei] um einen geistig verfertigten Selbstbetrug, der sich das Zurechtkommen mit Zwängen als selbstgesetzte Absicht des eigenen Willens und die Grade des Zurechtkommens als unterschiedlich gelungene Willensleistung erklärt. 'Jeder ist seines Glückes Schmied' ist ja gerade eine Lehre, die der Schüler nicht nur für sein Schülerdasein anwenden soll und anwendet, sondern eine Lehre fürs Leben: Egal, wie schlecht es einen trifft, ist Durchbeißen angesagt. Dass es einen getroffen hat, soll [...] [mensch] als eigenverschuldet akzeptieren, um dann doch noch alles zu geben, damit man [und frau] am Ende als Gewinner dasteht“ (ebd., S. 11).
Tatsächlich also sollte, wer in der Ausbildungs- und Berufswelt scheitert, nicht zuerst den Rückschluss auf sein eigenes – persönliches, „verdientes“ – Versagen ziehen. Eben weil es in der eingerichteten Konkurrenz stets notwendig Verlierer gibt – mehr oder minder unbeschadet der Tatsache, wie sehr mensch sich verausgabt und angestrengt und welch wirklich gute Leistungen man oder frau faktisch erbracht haben mag. Nicht gänzlich unbeschadet hingegen der Tatsache, woher mensch kommt – und was er oder sie daher bereits „mitgebracht“ hat.
Und tatsächlich sollte, wer die von PISA attestierte Misere des deutschen Schul- und Hochschulsystems beseitigen will, zu allererst bei den Lehr- und Lernmethoden sowie mit individueller Förderung einzelner beginnen. Die Auseinandersetzung um die Abschaffung der Notengebung stünde hierbei zwingend im Mittelpunkt, wird durch selbige ein indivividuelles Fördern der Schülerinnen und Schüler doch institutionell fast unmöglich gemacht.
Nachwort
Der vorliegende Beitrag verzichtete bewusst auf die Feststellung, dass Noten zudem stets subjektiv in der Form sind, dass sie in hohem Masse von der persönlichen Einstellung der Lehrenden beeinflusst werden. Allzu oft führt derlei Kritik (nämlich) dazu, dass mensch die Noten „verbessern“ und dadurch „gerechter“ machen will, was zwar de facto gut klingt, die Sicht auf das eigentliche Problem jedoch verstellt: Dass Noten eben stets, qua ihrer Funktion, dazu dienen, unterschiedliche Menschen unter gleiche Bedingungen zu zwingen und sie bzw. ihre Bewährung unter diesen schließlich zu messen und bewerten, was vorhandene Benachteiligungen mehr und mehr verstärkt. Ganz egal also, wie „präzise“ zukünftige Noten unter gleichen Bedingungen – die unter dem Zwang zur Selektion stets gegeben sind – und mit verschiedenen Voraussetzungen „Leistung“ also mäßen: Geht es um Gleichberechtigung und Lernen, gehören diese abgeschafft. Stattdessen sollte mensch lieber daran gehen, die Förderung individueller (Lern-)Probleme in Angriff zu nehmen – und ein Lernen um des Lernens (vgl. hierzu Ulrike Behrens), nicht der Selektion willen, zu ermöglichen. Vorhandene Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der „Notensubjektivität“ seien hier aber dennoch genannt. Sie verweisen „auf eine sehr weitgehende Subjektivität in der Zensurengebung. Es handelt sich um persönlich gefärbte Urteile, nicht um objektive Bewertungen, die auf einen gemeinsamen Massstab verweisen müssten. Das gelte selbst oder gerade für den Mathematikunterricht. Eine deutsche Studie zeigte, dass einige Mathematiklehrkräfte von den Fehlern, andere von den richtigen Lösungen ausgingen, um zur Zensur zu gelangen. Die Ansichten über die Bewertung von Faktoren wie Sauberkeit, Schrift, formal-mechanischem Rechnen im Vergleich zum Finden des Lösungsansatzes oder zum mathematischen Denken variierten erheblich [...]. Für die Bewertung sei auch die “implizite Persönlichkeitstheorie„ entscheidend [...], mit der die Lehrkräfte ihre Verhaltens- und Charaktererwartungen an die Schüler bestimmen. Diese Erwartungen werden nicht explizit formuliert und sind gleichwohl wirksam. Weitere Fehlerquellen im Urteil sind [bspw.] Stereotypen in der Geschlechtswahrnehmung oder auch einfach individuelle Vorlieben [...]. [...] Unterstellt wird [also stets] die Vergleichbarkeit der Notengebung an allen Orten, während die tatsächlichen Bewertungen von Schule zu Schule und von Fach zu Fach variieren, zum Teil erheblich“ (Jürgen Oelkers).
Als wichtige „subjektive“ Fehlerquellen wurden hierbei bereits Ende der 70er Jahre die folgenden erkannt (vgl. ebd.):
Halo-Effekt: Ein globaler Allgemeineindruck bestimmt die Wahrnehmung einzelner Merkmale
Beharrlichkeitstendenz: Lehrkräfte rücken von einem bereits gefällten Urteil bei späteren Beurteilungen nicht ab
Reihungseffekt: Unter dem Eindruck, „es können doch nicht alle gleich schlecht sein“, werden bessere Noten gegeben
Kontrasteffekt: Nach einer Serie von sehr guten Leistungen wird eine mittelmässige Leistung tendenziell als schlecht bewertet
Beurteilungstendenzen: Milde oder Strenge, „zentrale Tendenz“ (Vermeidung von Extremwerten) und „motivierende“ versus „selektive“
Notengebung Wissen-um-die-Folgen-Fehler: Mildere Beurteilung bei absehbar negativen Folgen für die Schüler, nicht umgekehrt.
Faktisch ist es in der Schulrealität also sogar möglich, dass der „sympathische Dumme“ (unter gewissen Voraussetzungen) die bessere Benotung als die „unsympathische Kluge“ erhält. Da Sympathie zumeist nach Vertrautheit und Ähnlichkeit zum eigenen Auftreten und Verhalten bemessen wird, fällt auch solcherlei „subjektives“ Urteil – vom studierten Lehrer gefällt – für Schülerinnen und Schüler aus „Akademikerelternhäusern“ in aller Regel vorteilhafter als für solche aus anderen sozialen Milieus aus. Die institutionelle soziale Selektion wird mittels „Subjektivität“ also nicht aufgehoben, sondern üblicherweise durch diese verstärkt.
Quellen
- Michael Hartmann: Der Mythos von den Leistungseliten. Spitzenkarrieren und soziale Herkunft in Wirtschaft, Politik, Justiz und Wissenschaft, Campus-Verlag Frankfurt am Main, 2002
- ag wissenschaftliche kritik des AStA Universität Bremen: Lernen unter dem Diktat der Note, AStA-Druckerei Bremen, 2002
- Jens Wernicke: Die „PISA-Studie“: Was sich dahinter verbirgt, Studis Online-Artikel, 2006
- Jürgen Oelkers: Leistungsbeurteilung als Problem und Chance der Schulentwicklung, Online-Artikel, 2001
- Ulrike Behrens: Lernen statt Begabung: Vorschläge zu einer neuen Herangehensweise an das Problem individuell unterschiedlicher Leistungen; in: Jens Wernicke/Michael Brodowski/Rita Herwig (Hrsg.): Denkanstöße. Wider die neoliberale Zurichtung von Bildung, Hochschule und Wissenschaft, Lit-Verlag Münster, 2005
Weiterführende Literatur
- Karlheinz Ingenkamp: Die Fragwürdigkeit der Zensurengebung, Beltz, 1995
- Ulrike Behrens: Das Rätsel Lernen. Eine subjektwissenschaftliche Untersuchung zur Konstruktion und Bedeutung des Lernens, Focus-Verlag, 2002
- Freerk Huisken: Erziehung im Kapitalismus. Von den Grundlügen der Pädagogik und dem unbestreitbaren Nutzen der bürgerlichen Lehranstalten, VSA-Verlag, 2001
Online-Texte zum Thema
- Torsten Bultmann: Die Eliten und die Massen. Kritik eines bildungspolitischen Stereotyps, Hochschule Ost 3-4, 1999
- Elisabeth Flitner: Pädagogische Wertschöpfung. Zur Rationalisierung von Schulsystemen durch public-private-partnerships am Beispiel von PISA, Forum Kritische Pädagogik, 2006
- Reinhard Kahl: Schlechte Zensur für Noten. Eine neue Studie zeigt, wie unzuverlässig Schulnoten sind. Schriftliche Beurteilungen allerdings sind es auch, DIE ZEIT, 14.06.2006
- Sandra Beaufaÿs: Aus Leistung folgt Elite? Nachwuchsförderung und Exzellenz-Konzept, Forum Wissenschaft 2/2005
- Morus Markard: Wer braucht Erziehung?, UTOPIE kreativ, H. 187 (Mai 2006)
- UNiMUT aktuell: Ideologieproduktion in der Prüfungsordnung, 08.02.2006
- JUSOS Presse-Information 021/2003: Noten abschaffen - gerechte Bewertung einführen, 06.03.2003
Hinweis: Alle Links wurden im März 2015 geprüft. Sollte ein Link nicht mehr funktionieren oder nicht mehr zum gewünschten Inhalt führen, bitten wir um kurze Nachricht per Mailformular. Wir bemühen uns dann um Korrektur.
Dieser Artikel-Text ist unter einer Creative Commons-Lizenz (Namensnennung-NichtKommerziell-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 2.0 Deutschland) lizenziert. Unter Namensnennung verstehen wir die Nennung des Autors/der Autorin sowie - in Online-Medien - ein anklickbarer Link auf den Artikel oder www.studis-online.de. Eine kommerzielle Nutzung ist ohne gesonderte Genehmigung ausgeschlossen.
Bitte beachten, dass die Lizenz nur für diesen Artikel-Text und nicht etwa für das ganze Angebot von Studis Online gilt. Nur Artikel, unter denen sich explizit ein solcher Hinweis findet, dürfen im Rahmen der Bedingungen verwendet werden. Es kann bei anderen Artikeln auch von dieser Lizenz abweichende Lizenzen geben, also bitte genau lesen und beachten!