"Benachteiligungen aufgrund der sozialen Herkunft gibt es nicht nur an Schulen!"

Strukturelle Hürden oder Barrieren sind in der Regel nicht so gut zu erkennen. An ihrer ausgrenzenden Wirkung für die Betroffenen ändert das jedoch nichts.
Jens Wernicke: Hallo, Andreas. Du hast vor einigen Jahren ein Referat für "studierende Arbeiterkinder"1 gegründet und gibst nun ein entsprechendes Magazin2 heraus. Ist das nicht antiquiert?
Andreas Kemper: Die anhaltende Benachteiligung von Arbeiterkindern im Bildungssystem ist antiquiert und das deutsche hochselektive Schulsystem, welches unter anderem für diese Benachteiligung verantwortlich ist, ist veraltet – und nicht die Kritik und das politische Engagement gegen die aus der Kaiserzeit stammende auslesende Frontalpädagogik.
Okay. Und was genau versteht ihr unter "Arbeiterkindern"? Gibt es die denn heute überhaupt noch?
Ja, und zwar mehr denn je, zumindest wenn man "Arbeiterkinder" nicht allzu wörtlich nimmt. Wir verstehen in diesem Kontext unter "Arbeiterkindern" diejenigen, die aufgrund ihrer sozialen Herkunft Benachteiligungen im Bildungssystem erfahren, wo also beispielsweise die Eltern wenig Geld oder wenig Bildung im akademisch anerkannten Sinne besitzen etc. pp.
Verstehe. Und worin besteht eure Kritik, euer Engagement?
Das "Referat für finanziell und kulturell benachteiligte Studierende" wurde 2003 während einer Vollversammlung von 80 Studierenden der Uni Münster gegründet. Die studierenden Arbeiterkinder sprachen sich für die Einrichtung eines autonomen Referates aus, welches sich für die Interessen von Arbeiterkindern im Bildungssystem einsetzen soll.
Seither werden jährlich zwei Referenten bzw. Referentinnen gewählt, die mit Veranstaltungen, Broschüren, Pressemitteilungen gegen die Fortsetzung der Benachteiligung intervenieren, internationale Kontakte herstellen, aber auch mit Beratung vor Ort studierende Arbeiterkinder unterstützen.
Wir sind noch immer das einzige Referat in Deutschland. In den Vereinigten Staaten hat derlei aber Tradition. Wir arbeiten mit Initiativen dort zusammen und werden im nächsten Jahr erstmals die Konferenz der Working Class Academics, also der Arbeiterkinder, die Hochschul-Dozenten geworden sind, nach Deutschland holen.
Wie muss man sich eure politischen Aktivitäten denn vorstellen?
Wir stellen Informationen zusammen, haben dafür gesorgt, dass der freie zusammenschluss der studentInnenschaften (fzs) stärker das Thema "Soziale Herkunft" fokussiert, zum Beispiel durch gemeinsam durchgeführte Tagungen.
Aktuell versuchen wir darauf hinzuwirken, dass die Antidiskriminierungsstelle des Bundes in ihrem Forschungsprojekt "Diskriminierung in Hochschulen" auch die Diskriminierung von Arbeiterkindern berücksichtigt, was bislang noch nicht vorgesehen war. Wir führen Gespräche sowohl mit der Antidiskriminierungsstelle als auch mit den zuständigen Wissenschaftlerinnen an den Hochschulen, die im Forschungsprojekt involviert sind.
Und was hat das mit Arbeiterkindern zu tun?
Nun, wir erleben gerade eine massive Abkehr von der Chancengleichheits-Ideologie der 1970er Jahre. Bei aller Kritik, die man an der Chancengleichheit als Prinzip haben kann – und diese teilen wir natürlich –, gibt es seit Anfang 2000 eine Abkehr von diesem Gleichheitsprinzip, nach dem alle die gleichen Chancen haben sollen.
Dies zeigte sich zunächst an der Durchsetzung des Begriffs "Chancengerechtigkeit", welcher besagt, dass die Chancen nicht mehr gleich, sondern "gerecht" verteilt werden sollen, "Hochbegabte" also mehr Chancen haben sollen als "Minderbegabte" und die Ressourcenverteilung in der Bildungspolitik noch mehr für eine Eliten(re)produktion genutzt werden soll. Jüngstes Beispiel: für Stipendien für "Begabte" werden vom BMBF mal eben über 300 Millionen Euro zusätzlich ausgegeben, für den Inflationsausgleich beim BAföG, welcher ähnlich teuer wäre, ist jedoch kein Geld da.
Hintergrundinfos zu Theorien der Diskriminierung
Klassismus bedeutet die systematische Diskriminierung bzw. Unterdrückung einer Gruppe durch eine andere, basierend auf ökonomischen Unterschieden. Es wird unterschieden zwischen Diskriminierung gegenüber Arbeitern (working class) und armen Menschen (poverty class).
Die Überschneidung von verschiedenen Diskriminierungsformen, wird in der Intersektionalitätsforschung bearbeitet. Während in der Triple-Oppression-Theorie die Verknüpfung der Unterdrückung aufgrund von ethnischer, klassenspezifischer und geschlechtlicher Gruppenzugehörigkeit ("Race, Class und Gender") diskutiert wurde, wird in der Intersektionalitätsforschung von mehr als zehn verschiedenen Diskriminierungsformen ausgegangen.
Der Begabungsdiskurs wird momentan biologistisch untermauert. Klaus von Dohnanyi sprach in seiner Verteidigung Sarrazins von der Existenz von "sozialen Rassen". Arbeiterkinder, bzw. Kinder aus der sogenannten "Unterschicht" sind in diesem Denken eigene "Rassen". Hier kommt der Mythos der Vererblichkeit von Intelligenz ins Spiel, und zwar nicht nur einer individuellen Vererblichkeit, sondern einer schicht- und ethnienspezifischen Vererbung von Intelligenz.
Kinder werden nicht mehr als Individuen wahrgenommen, sondern ihnen wird aufgrund ihrer Schichtzugehörigkeit ein Wahrscheinlichkeits-IQ unterstellt. Da Kinder aus der Unterschicht angeblich mit einer größeren Wahrscheinlichkeit mit einem geringeren IQ geboren werden, sollten sie besser nicht in allzu großer Zahl geboren werden. Akademikerkinder sind hingegen gewünscht. Diese Eugenik wird ja nicht erst seit Heinsohn und Sarrazin gefordert, sie ist längst im Übergang vom Erziehungsgeld zum Elterngeld Praxis geworden. Die ehemalige SPD-Familienministerin Schmidt ist sich da mit der Bundeskanzlerin Merkel einig: wir brauchen mehr Akademikerkinder, weil Deutschland mehr Akademiker braucht. Arbeiterkinder, Nicht-Akademikerkinder werden für blöd erklärt.
Aber ist es strategisch nicht ungünstig, ausgerechnet von Arbeiterkindern zu sprechen?
Ja, das dachten wir auch, deshalb heißt unser Referat auch "Referat für finanziell und kulturell benachteiligte Studierende" und nicht "Arbeiterkinder-Referat".
Wir hätten es damals nicht mit dem passenderen Titel durchsetzen können. Aber es scheint sich etwas geändert zu haben. Die Initiative Arbeiterkind.de hat beispielsweise immensen Zulauf.
Apropos Arbeiterkind.de: Kannst du dazu mehr erzählen?
Es handelt sich um eine Initiative, die vor zwei Jahren von Katja Urbatsch aus Gießen gegründet wurde. Die Initiative versucht, bei Nicht-Akademikerkindern Informationsdefizite zu beheben, man geht an Schulen, um über Hochschulen zu berichten, informiert über Studienfinanzierungsmöglichkeiten usw. Inzwischen beteiligen sich um die 1.800 Mentoren und Mentorinnen in etlichen Hochschulstädten an diesem Projekt.
Und ihr, beteiligt auch ihr euch bei bzw. an Arbeiterkind.de?
Jein. Zwar arbeiten wir vor Ort sehr gut mit der lokalen Gruppe zusammen. Wir haben aber auch Kritik. Beispielsweise ist Arbeiterkind.de ist bewusst unpolitisch. Diese Enthaltsamkeit gekoppelt mit dem caritativen Anspruch macht das Projekt dann zwar zum Sympathieträger der Medien. Sie erhielten auch ein Dutzend gutdotierter Preise. Aber eine unpolitische Haltung lässt sich gerade bei diesem Thema nicht durchhalten ohne an den eigenen Ansprüchen zu scheitern.
Wenn von Arbeiterkind.de das Informationsdefizit in der praktischen Arbeit problematisiert wird, ist das eine gute Sache. Leider führt das aber auch dazu, das in Interviews oder auf Podien Arbeiterkind.de die Ansicht vertritt, dass das Informationsdefizit von Nicht-Akademikerkindern das eigentliche Problem sei. Und das ist natürlich falsch. Vom Elterngeld bis zur Stipendienpraxis finden Privilegierungen zugunsten der gutverdienenden Mittelschicht und Benachteiligungen von Arbeiterkindern statt.
Erst letztens hat mir eine Studentin erzählt, dass sie sich nie wieder bei einer Stiftung bewerben wird. Sie hatte alle nötigen Informationen, hatte auch einen sehr guten Bachelor-Abschluss, und wurde dann abgelehnt, weil ihr Schulzeugnis zu schlecht gewesen sei, was auf eine mindere Begabung schließen lasse. Tatsächlich war ihr Schulzeugnis schlecht, weil sie zu dem Zeitpunkt andere Sorgen hatte als gute Noten und sich erst im Studium für Inhalte begeistern konnte. Informiertsein allein nützt also nicht viel, solange dieser Begabungsquatsch vorherrscht, solange Arbeiterkinder systematisch ausgrenzt werden. So gesehen kann die Arbeit von Arbeiterkind.de auch kontraproduktiv werden, wenn das Projekt den "Mythos der Leistungsgesellschaft"3 weitertransportiert.
Gibt es diese Benachteiligungen auch an Hochschulen, oder finden sich Benachteiligungen nur aufgrund der Schulstruktur und den Vorurteilen der Lehrer statt?
Natürlich finden sich auch an Hochschulen Diskriminierungen gegenüber Arbeiterkindern. Ich habe gerade die Stipendienpraxis erwähnt. Dann existiert ein Uni-Bluff4, der eher Arbeiterkinder abschreckt als Akademikerkinder, die mit einer größeren Wahrscheinlichkeit das ganze intellektuelle Gehabe von daheim, von ihren älteren Geschwistern etc. kennen. Dort, wo Professoren ihre studentischen Mitarbeiter aussuchen können, finden sich seltener Arbeiterkinder.
Einige Fachbereiche wie bspw. Zahnmedizin erwarten von den Studierenden, dass sie sich das Besteck, oder wie man die Werkzeuge dort auch immer nennt, für ein paar tausend Euro selber kaufen. Und es gibt im studentischen Alltag Ausgrenzungsmechanismen. Ähnliches gilt für Exkursionen. Insgesamt unterscheidet sich bei der Frage, warum Studierende das Studium abbrechen, die Abbruchsmotivation nach der sozialen Herkunft. Aber es ist noch nicht einmal der finanzielle Grund als Hauptmotivation des Studienabbruchs, wo sich Kinder armer und reicher Eltern unterscheiden, sondern Krankheit. Arbeiterkinder brechen sehr häufig ihr Studium ab mit der Begründung "Krankheit".
Wir kennen aus verschiedenen Studien, dass nach sozialer Herkunft geheiratet wird. Wahrscheinlich finden auch bei WG-Vorstellungsgesprächen Auswahlen nach der sozialen Herkunft statt.
Und was kann man machen?
Sich organisieren. Die gemeinsamen Erfahrungen teilen. Sich austauschen. Gemeinsam aktiv werden. Als Arbeiterkinder die Stimme erheben, vom Objekt zum Subjekt werden. Es wird immer nur über die Benachteiligung von Arbeiterkindern gesprochen (oder von der Notwendigkeit, ihre Anzahl durch eine gezielte Geburtenpolitik zu verringern (Elterngeld, Sarrazin) ), aber Arbeiterkinder sprechen zu selten als Arbeiterkinder, die Forderungen haben. Wir sammeln beispielsweise Erfahrungsberichte. Das führt zu einigen spannenden Diskussionen und vielen Aha-Effekten, wenn man plötzlich etwas wiedererkennt, wo man immer dachte, dass wäre ein persönliches Problem. Eigentlich stehen wir politisch in der Organisierung dort, wo die Frauen- und die Schwulenbewegung Anfang/Mitte der 1970er Jahre stand. Es gibt also ein großes Organisierungspotential. Und es gibt viel zu tun.
Du sprachst am Anfang des Interviews von einem Magazin...
"The Dishwasher. Magazin für studierende Arbeiterkinder" ist ein crossmediales Projekt, bestehend aus einem halbjährlich erscheinenden Magazin, einem Blog und einem Wiki. Das nächste Magazin erscheint im Januar. Wir suchen noch Beiträge zum Thema "Leben und Überleben an der Uni", also Erfahrungsberichte oder journalistische Artikel zum Thema: Wie geht es dir als Arbeiterkind / Nicht-Akademikerkind an der Uni? Im wissenschaftlichen Teil soll es um "Habitus-Struktur-Konflikte" gehen. Bis zum 01.12.2010 können noch Beiträge eingesandt werden. Blog-Beiträge sind natürlich auch immer gerne gesehen und fürs Wiki suchen wir ebenfalls Leute, die mitarbeiten. Also, beteiligt Euch!
Wo und wie kann man sich beteiligen?
Ich bedanke mich für das Gespräch.
Das Interview führte Jens Wernicke.
Weiterlesen unter:
- Klassismus-Blog von Andreas Kemper - Kritik an der deutschen Klassengesellschaft
- Referat für finanziell und kulturell benachteiligte Studierende (AStA Münster)
- Homepage der Initiative ArbeiterKind.de
- Blog der WorkingClassAcademics-Conference 2011 in Germany
- Classism.org - Homepage des "Program on Inequality and the Common Good" (Institute for Policy Studies)
- Eintrag in der deutschen Wikipedia zum Stichwort "Klassismus"
- Telepolis - Vom Rassismus und Sexismus zum Klassismus (11.10.2010)
Fußnoten
1 Referat für finanziell und kulturell benachteiligte Studierende - AStA Uni Münster
2 The Dishwasher
3 Vgl. dazu bspw.: http://www.astafu.de/inhalte/artikel/a_2003/leistungseliten/
4 Vgl. dazu bspw.: https://www.studis-online.de/StudInfo/uni_angst.php