Finanzierungsproblem?Bis zu einer Million Studienplätze zu wenig
Die Hochschulen sind seit Jahrzehnten eine ständige Baustelle – es wird immer nur das nötigste repariert (wenn überhaupt).
Von Jens Wernicke
Seit Jahren sind die deutschen Universitäten und Fachhochschulen unterfinanziert. Dem politischen Ziel, mehr junge Menschen zum Studienabschluss zu führen, sind seit Jahrzehnten nicht die hierfür notwendigen finanziellen Mittel zuteil geworden, so dass heute an Hochschulen teilweise mehr als doppelt so viele (vgl. hier) Studierende ausgebildet werden als Studienplätze vorhanden sind; die Hochschulen bekommen sozusagen für 100 Studienplätze Geld, werden jedoch gezwungen, mit diesen Mitteln 200 oder mehr Studierende auszubilden:
"Die Phase des Hochschulausbaus wurde durch die Sparpolitik der Länder schon Ende der siebziger Jahr gestoppt. Bund und Länder fassten damals den sog. ‚Öffnungsbeschluss’ und verlangten von den Hochschulen, dass der ‚Berg’ der geburtenstarken Jahrgänge ‚untertunnelt’ werden solle. Die Hochschulen sollten etwa ein Jahrzehnt lang eine ‚Überlast’ an Studierenden bei gleich bleibendem Budget und bei stagnierenden Zahlen des Lehrpersonals akzeptieren.
Diese so genannte ‚Untertunnelungsstrategie’ gehörte zu den größten (Lebens-) Lügen der Hochschulpolitik der Nachkriegszeit. Denn die Zahl der Studierenden erhöhte sich kontinuierlich, von etwas über einer Million im Jahre 1980 auf knapp 1,6 Millionen im Jahre 1990 und im vereinigten Deutschland bis auf heute 1,9 Millionen. Das Hochschulpersonal hingegen stagnierte. Laut dem von der Kultusministerkonferenz und dem Bundesbildungsministerium herausgegebenen ‚Bildungsbericht 2008’ ist die Zahl der Professuren verglichen mit 1997 zwar an den Fachhochschulen um etwa 1.300 gestiegen; bei die Universitäten sank sie jedoch um 1.160.
Die Betreuungsrelationen lagen bald weit unter dem internationalen Standard. Nach den im Juli dieses Jahres veröffentlichten Empfehlungen des Wissenschaftsrats kamen 1972/73 an den Universitäten unter 40 und an den Fachhochschulen weit unter 20 Studierende auf einen hauptberuflichen Professor, 2005/2006 waren es über 60 an den Unis bzw. knapp 40 Studierende an den Fachhochschulen (das Verhältnis von sämtlichen Studierenden zu hauptberuflichen Professoren in den Sprach- und Kulturwissenschaften beträgt ca. 76 zu 1, in den Rechts-, Wirtschafts-, und Sozialwissenschaften gar ca. 104 zu 1)."
Wolfgang Lieb, ehemaliger Staatssekretär im Wissenschaftsministerium NRW (Quelle)
Dass die Studienbedingungen an deutschen Hochschulen immer schlechter werden, liegt also weniger an den schlechten pädagogischen Fähigkeiten einzelner Dozierender als vielmehr an der chronischen Unterfinanzierung des Bildungssystems. Denn, kurzum: wo ein Professor 60 Studierende betreuen muss, bleibt für den einzelnen und die einzelne naturgemäß immer zu wenig Zeit.
Grafik 1: Veränderungen in der Finanzierung von Hochschulen 1980 bis 2007
Gunter Quaißer und Klemens Himpele: Ökonomische Rahmenbedingungen und Hochschulfinanzierung, 2010
Die Zukunft kann noch schlimmer werden
In dieser bereits unschönen Situation veröffentlicht nun das Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie (FiBS) eine neue Studie, die ergibt, dass:
"bis 2020 bis zu einer Million mehr Studienplätze erforderlich [sind]. Unter Berücksichtigung des Hochschulpakts besteht somit ein Finanzierungsbedarf für weitere 700.000 Plätze. Dieser Bedarf an Studienplätzen ergibt sich daraus, dass bis 2020 jedes Jahr mindestens 400.000 Studienanfänger an die Hochschulen drängen."
Dieter Dohmen: FiBS-Studienanfängerprognose 2010 bis 2020: Bundesländer und Hochschulpakt im Fokus (Quelle)
Die Regierungen haben sich also verrechnet: Die Verkürzung der Abiturzeit auf 12 Jahre, der geplante Wegfall der Wehrpflicht und nicht zuletzt die zunehmende soziale Spaltung im Land, die ein Hochschulstudium als sinnvolle Maßnahme gegen spätere Arbeitslosigkeit erscheinen lässt, haben zu einer deutlich höheren Studiennachfrage als dies bisher angenommen worden war geführt.
Glaubt man der Bundesregierung, dass es ihr Ziel ist, die Studienanfängerquote massiv zu erhöhen und geht einmal nicht davon aus, dass die Lösung des Problems der überlaufenen Hochschulen nun immer rigidere Zulassungsbeschränkungen derselben, die schließlich für immer mehr junge Menschen das Abitur als Hochschulzulassungsberechtigung wertlos machen werden, sein werden, stellt sich die Frage: Woher sollen die fehlenden Mittel eigentlich kommen, die aktuell bereits fehlen und bei immer weiter steigenden Studierendenzahlen immer mehr an den Hochschulen fehlen werden?
Die Frage lautet: Wer soll das bezahlen?
Die Position der Regierenden in dieser Frage scheint eindeutig zu sein. So muss zum einen, wenn auch nach Möglichkeit nicht an der Bildung, wenn es sein muss, jedoch auch an ihr hart gespart werden, ist also, wie es seit Jahren heißt, vermeintlich kein Geld mehr da, das der Staat zusätzlich ausgeben und investieren könnte. Und erklärt zum anderen die Bundesbildungsministerin Annette Schavan in Zeitungsinterviews öffentlich: "Das Gratisstudium für künftige Akademiker ist ein Privileg, das nicht zeitgemäß ist." (Quelle).
Ungeachtet der Tatsache, dass die Behauptung, in einem der reichsten Länder der Erde sei immer weniger Geld vorhanden, und ungeachtet auch der, dass feststeht, dass kaum irgendein anderes Industrieländer auf der Welt ähnlich wenig Geld in sein Bildungssystem investiert wie Deutschland (siehe Grafik 2), steht also insbesondere zu befürchten, dass Teile der Regierung planen, die Defizite im Bildungssystem immer mehr durch Eigenbeiträge zu bestreiten, die Finanzierungslücken also mittels Bildungsgebühren zu finanzieren.
Grafik 2: Öffentliche Gesamtausgaben für Bildung in Relation zum Bruttoinlandsprodukt (BIP)
Gunter Quaißer:Bildungsfinanzierung - Vom Rückzug der öffentlichen Hand (Quelle)
Diese Vermutung lassen nicht nur aber auch Strategiepapiere der OECD aufkommen, in denen es bspw. heißt:
"Um das Haushaltsdefizit zu reduzieren, sind sehr substanzielle Einschnitte im Bereich der öffentlichen Investitionen oder die Kürzung der Mittel für laufende Kosten ohne jedes politische Risiko. Wenn Mittel für laufende Kosten gekürzt werden, dann sollte die Quantität der Dienstleistung nicht reduziert werden, auch wenn die Qualität darunter leidet. Beispielsweise lassen sich Haushaltsmittel für Schulen und Universitäten kürzen, aber es wäre gefährlich, die Zahl der Studierenden zu beschränken. Familien reagieren gewaltsam, wenn ihren Kindern der Zugang verweigert wird, aber nicht auf eine allmähliche Absenkung der Qualität der dargebotenen Bildung, und so kann die Schule immer mehr dazu übergehen, für bestimmte Zwecke von den Familien Eigenbeiträge zu verlangen, oder bestimmte Tätigkeiten ganz einstellen. Dabei sollte nur nach und nach so vorgegangen werden, z.B. in einer Schule, aber nicht in der benachbarten Einrichtung, um jede allgemeine Unzufriedenheit der Bevölkerung zu vermeiden."
Christian Morrisson: The Political Feasibility of Adjustment. Policy Brief No. 13, OECD 1996 (Quelle; eine ausführliche Kritik dazu und zum Konzept "Humankapital" findet sich in Was bedeutet eigentlich »Humankapital«?)
Wenn Studierende also bei zukünftigen Protesten gegen schlechte Lehr- und Lernbedingungen an Hochschulen nicht auch mehr und mehr der Einführung allgemeiner Studiengebühren und damit sukzessiven Privatisierung von Bildung (siehe hierzu Grafik 1) das Wort reden wollen, werden Sie nicht umhin kommen, Antworten auf die Frage nach anderen Finanzierungsmöglichkeiten guter Bildung zu erarbeiten.
Privatisierung oder öffentliche Finanzierung guter Bildung?
Einen Beitrag hierzu hat unlängst die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) geleistet, als sie ein eigenes Steuerkonzept vorgestellt hat, das eine Grundlage zu massiven Qualitätssteigerungen im Bildungssystem ermöglichen würde – ohne, wie dies in immer mehr Ländern der Erde der Fall ist, Studiengebühren, die alle Jahre weiter und weiter erhöht werden, oder andere Arten der "Selbstfinanzierung" im Bildungssystem einzuführen.
Die Frage, auf die sich auch die immer gravierender werdende Situation an Hochschulen zuspitzt, lautet also: Sollen mehr und mehr Eigenbeträge für Bildung verlangt oder soll der Staat selbst Bildung finanzieren, und wenn ja, dann wie?
Die Konsequenzen der einen Alternative treten gerade sichtbar in Großbritannien zutage und rufen bereits starke Proteste hervor (vgl. auch hier):
"Die Studiengebühren in Großbritannien werden ab 2012 drastisch erhöht. Der Staatsminister für die Universitäten, Willetts, sagte in London, dann sollten die Hochschulen jährlich bis zu 6.000, in besonderen Fällen auch bis zu 9.000 Pfund von jedem Studierenden verlangen können. Bisher sind es knapp 3.300 Pfund. Die geplante Erhöhung der Gebühren, für die noch die Zustimmung des Parlaments nötig ist, steht in Zusammenhang mit dem Sparkurs der Regierung im Bildungshaushalt."
Deutschlandradio: Studiengebühren in Großbritannien sollen drastisch steigen (Meldung vom 04.11.2010, leider online nicht mehr zugänglich)
Dem gegenüber stehen Auffassung und Konzept der GEW:
"Der Staat hat kein Ausgaben-, sondern ein Einnahmenproblem", analysierte GEW-Vorsitzender Ulrich Thöne angesichts der anhaltenden Diskussion um die Finanzierung dringend notwendiger öffentlicher Ausgaben für Bildung, Arbeit, Umwelt und Soziales. Das steuerpolitische Konzept der GEW sieht eine umfassende und solidarische Reform des Steuersystems vor, die dem Staat mehr als 75 Milliarden Euro jährlich zusätzlich einbringen würde.
Pressemitteilung der GEW vom 28. September 2010 / Steuerkonzept der GEW: solidarisch und effektiv (weitere Hintergründe auch hier)
Noch ist offen, welche Position sich in Deutschland durchsetzt - oder ob sich weiter durchgewurstelt wird.