ForschungsprojektWie gutes Studieren gelingt
Von Jens Wernicke
Guten Tag, Frau Bülow-Schramm. Was ist Anliegen Ihres Projektes und worum geht es genau?

Prof. Dr. Margret Bülow-Schramm studierte Soziologie, Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Latein an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt a. M. mit dem Abschluss Diplom Soziologin. 1976 promovierte sie an der Hamburger Universität über "Evaluation als Aktionsforschung" und habilitierte sich 1994 an der Universität Hannover Fachbereich Erziehungswissenschaft, Lehrgebiet Soziologie zum Thema: "Übergänge. Empirische Erforschung der Nahtstellen zwischen hochschulischer Ausbildung und (berufs-)praktischer Tätigkeit". Sie ist Professorin am Interdisziplinären Zentrum für Hochschuldidaktik (IZHD) der Universität Hamburg.
In unserem Projekt untersuchen wir, worin die Barrieren für ein erfolgreiches Studium bestehen und wie diese mit hochschuldidaktischen Interventionen herabgesetzt werden können.
Unsere Grundthese lautet, dass hochschuldidaktisch fundierte Lehr- und Lernformen und Studiensysteme mit begleitenden Beratungsangeboten einen Anstieg der Studierquote insbesondere auch von Angehörigen nicht akademischer Schichten bewirken können, worin ein noch unausgeschöpftes Potential liegt. Sie können dazu beitragen, den Studienerfolg im Allgemeinen zu erhöhen und die Studienabbruchneigung zu reduzieren.
Wir wollen helfen, beteiligungsorientierte Lehrformen zu entwickeln, die das individuelle Lernen von allen Studierenden fördern und forcieren. Nicht nur, aber auch deshalb, stehen bei unserer Forschung die Studierenden im Mittelpunkt: Wir erheben ihre Meinungen. Ihre Vorschläge und ihre Kritik fließen in die hochschuldidaktischen Interventionen ein, die die Studiengänge schließlich verändern sollen, damit gutes Studieren möglich wird.
Können Sie uns denn nun nach rund zwei Jahren intensiven Forschens schon ein Stückweit die Frage beantworten: Was ist das denn, gutes Studieren, ein gutes Studium?
Ja, die gemachte Vorbemerkung vorangestellt, kann ich Ihre Frage in etwa beantworten.
Gutes Studieren gelingt unseren Erkenntnissen nach nämlich vor allem durch:
ein Anknüpfen an das Vorwissen der Studierenden, die vielfältige Lebenserfahrungen haben und spezifische Interessen an ihrem Studienfach mitbringen. Das muss im Hochschulkontext zum Tragen kommen;
eine Auseinandersetzung bereits am Anfang des Studiums mit den gewählten Fachinhalten bzw. eine umfassende Orientierung über die Rolle des gewählten Fachs im Studiengang. Oftmals verdrängen Nebenfächer und Formalia diese Auseinandersetzung;
- Max Green - Fotolia.com
Das Theorie-Praxis-Verhältniss im Studium ist oft unklar.
eine Klärung des Theorie-Praxis-Verhältnisses im Studium – insbesondere in den Bachelor- Studiengängen studieren viele Menschen mit Interesse am Praxisbezug des Wissens, der so in einem wissenschaftlichen Studium gar nicht vorkommt. Das muss geklärt und ausgehandelt werden;
das Thematisieren der späteren Berufsaussichten bereits im Studium, ohne auf ein enges Berufsfeld zugeschnitten zu sein;
Zeit für Kommunikation, Selbstlernprozesse und hochschul-gesellschaftspolitisches Engagement und last but not least
Lehr-, Lern- und Prüfungsformen, die eine aktive Beteiligung der Studierenden fordern, Zeit für Reflexionen und Feedback bieten, damit sich die Studierenden zu ihren Lehrenden und den Fachinhalten in Beziehung setzen können und auch von ihren KommilitonInnen lernen können. Wissenschaft ist ein kommunikativer Prozess, der auf Verständigung beruht, das muss auch im Studium vermittelt werden.
Die Kehrseite eines guten Studiums sind dann natürlich die Probleme, die die Studierenden haben, wenn, einiges hiervon nicht gegeben oder erfüllt ist, was wohl der Regelfall sein dürfte. Was sind die häufigsten Probleme von Studierenden, die das Studium und das Weiterkommen erschweren?
Aus unseren Interviews können wir herauslesen, was das Studium und den Studienbeginn schwierig macht, vielfach sogar schwieriger und stressiger als ursprünglich von uns gedacht und ganz egal auch, ob mit oder ohne Abitur.
Es scheint, als sei zuweilen die Quelle des Missvergnügens, dass die Hoffnungen und Mühen nicht belohnt werden, sondern organisatorische - und damit vermeidbare - Mängel den Studierenden das Ankommen in der Hochschule vergällen und sich die andere Seite auf dieses Ankommen nicht sorgfältig genug vorbereitet hat. Umstellungsschwierigkeiten, hervorgerufen durch die neue Studienstruktur mit Bachelor- und Masterstudiengängen, werden der Hochschule vereinzelt zugebilligt, hellen aber die getrübte Stimmung nicht wirklich auf.
Es sind in der Regel schlicht Fehlplanungen, die die notwendige Identifikation der Studierenden mit dem Studium erschweren: ein Nebenfach kann aus Überschneidungsgründen nicht gewählt werden; eine Bescheinigung wird plötzlich und unangekündigt bei der Anmeldung verlangt; die Benachrichtigung über den Erhalt des Studienplatzes kam zu spät.
Sorgen bereiten aber auch die inhaltlichen, fachlichen Studienanforderungen, die oft schwer bewältigbar erscheinen, und der vorweggenommene Prüfungsdruck, der vereinzelt durch die Lehrenden geschürt wird. Fast wortgleich werden denn auch von verschiedenen Studierenden die hohen Durchfallquoten als Stressfaktor angeführt, die gleich in den ersten Veranstaltungen so präsentiert werden: "Die Menschen rechts und links von Ihnen, die sehen Sie zum Examen nicht wieder".
Es gibt nüchterne und klagende Berichte über den Studieneinstieg, der einen so hohen Einsatz erfordert, dass private Interessen hintangestellt oder sehr gut organisiert werden müssen, um neben Lernen, Lehrveranstaltungsbesuch und Verwaltungsaufwand Berücksichtigung zu finden. Das steigert sich vereinzelt bis zu Angst und Lernschwierigkeiten, gerade weil klar scheint, dass ohne regelmäßiges Nach- bzw. Vorarbeiten die Prüfungen, die am Ende des Semesters drohen, nicht geschafft werden können. Aber auch die Ahnung ist vorhanden, dass das alleine nicht genügt. Der heimliche Lehrplan wird angesprochen, die unbekannten Beurteilungskriterien, denen man sich ausgesetzt sieht und auf die man sich wegen ihrer Unbekanntheit nicht vorbereiten kann. Wo das Regelsystem Hochschule nicht durchschaut wird, und dies passiert den Akademikerkindern unter unseren Interviewten seltener, werden Befürchtungen geäußert, dass das Studium nicht zu schaffen ist, man es womöglich wechseln müsse etc.
Sehen wir dies vor dem Hintergrund der Scheiternserfahrungen, die viele Studienanfänger schon auf dem Weg in die Hochschule gemacht haben, so ist das Bedrohliche des Beschwörens einer hohen Durchfallquote für sie einigermaßen einzuschätzen.
Wir finden aber auch Begeisterung darüber, nun endlich "Teil der studierenden Gesellschaft" zu sein. Wo das so ist, werden auch die Herausforderungen, die "inhaltlichen Hämmer", denen man sich ausgesetzt sieht, akzeptiert, obgleich für deren Bewältigung die Lernvoraussetzungen eventuell gar nicht vorhanden sind. Hier wiederum ist es das ganz Andere der Hochschule im Vergleich zur Schule, in der man gescheitert ist, das auch Mut macht und Perspektiven eröffnet.
Die meisten Studierenden haben also Probleme mit…?
Die konkreten und am häufigsten genannten "Stolpersteine" für StudienanfängerInnen sind vor allem:
das Nicht-Durchschauen des Regelsystems Hochschule (Bewertungskriterien? Logik des Prüfungssystems? Welcher Lernstil ist angemessen? Umgang mit (überbordenden) Anforderungen? Wie mit eigenen Unkenntnissen umgehen? Wie Gewinn aus dem Angebot ziehen? Wie überschießendes kulturelles Kapital erwerben? Wie soziales Kapital aufbauen und nutzen?);
zu voraussetzungsvolle Einführungsveranstaltungen, sowohl, was den Inhalt als auch was die Verhaltensweisen betrifft;
die Nicht-Berücksichtigung des beruflichen/praktischen Vorwissens durch die Lehrenden;
das gewählte Fach steht nicht im Mittelpunkt der AnfängerInnenveranstaltungen;
es fehlen Brückenkurse;
Theorie- und Praxisveranstaltungen sind zeitlich und inhaltlich getrennt.
Stolpersteine für AnfängerInnen und höhere Semester sind dann vor allem zu hohe Prüfungsanforderungen, Schwierigkeiten bei der Koordination von Erwerbsarbeit und Studium, Schwierigkeiten, den Studienaufbau zu verstehen, zu strikte Vorgaben für die zu erwerbenden Studieninhalte sowie die Tatsache, dass es allzu oft keine oder nur unzureichende Beteiligungsmöglichkeiten am Geschehen im Studium, also beispielsweise Einfluss auf die Veranstaltungszeiten oder Beurteilungskriterien etc., gibt.
Aber sind es denn nur pädagogische und organisatorische Probleme, die das Studium erschweren?
Nein, selbstverständlich nicht. Nicht minder wichtig sind die Rahmenbedingungen, unter denen die Studierenden arbeiten und lernen. Dazu gehören unter anderem das Klima an der Hochschule, eine gesicherte Studienfinanzierung ohne Verschuldung und Zukunftsangst, die Transparenz der hochschulischen Organisation selbst usw.
Das heißt: Was müsste sich an deutschen Hochschulen ändern, um qualitativ besseres Studieren zu ermöglichen?
Es müsste viel mehr Wert auf die Hochschuldidaktik und die Kommunikation unter den Lehrenden gelegt werden, um zwischen ihnen eine Abstimmung der Lernziele, der Lernformen, der Prüfungsformen und der Beurteilungskriterien, die auch wirklich transparent sein müssen, hinzukriegen. Erst dann machen Module Sinn und kann die Sicht der Studierenden und nicht immer nur auf die Studierenden ernst genommen und zum Ausgangspunkt der laufenden Studienreform gemacht werden.
Sicher müssen auch die Betreuungsrelationen auf die Beratungsbedürfnisse der Studierenden abgestellt werden. Das bedeutet: Besser ausgestattete und mehr Stellen für die HochschullehrerInnen und wissenschaftliche MitarbeiterInnen sind dringend vonnöten.
Vor allem aber muss die Interaktion zwischen Lehrenden und Studierenden stimmen, dafür muss es Raum geben, im Curriculum und örtlich.
Und die Hochschule muss Ort der Kommunikation sein bzw. werden, wofür die Hochschulen bisher oftmals gar nicht gerüstet sind.
Neulich gab es eine Studie, die suggerierte, das Problem im Lande seien vor allem die Studierenden, die zu wenig arbeiteten und ihr Studium zu unengagiert bestritten. Was halten Sie von solchen Zuschreibungen? Bzw. was geben Ihre Daten denn zum Thema studentisches "Engagement" her?
Bei der genannten Studie sind die Studierenden als Datenlieferanten behandelt worden für weit über die Datenbasis hinausgehende Interpretationen, noch dazu in politisch nicht aneckendem Sinne.
Unsere systematisch ausgewerteten mündlichen Interviews und die quantitativen Daten auf Basis der Online-Erhebung ergeben stattdessen ein starkes fachliches Interesse der Studierenden, den Wunsch nach einer Entfaltung des Anwendungsbezugs des Wissens als Bestandteil des Studiums und die Ausrichtung an einer Perspektive, die ihnen einen Beruf ermöglicht, in dem sie Sinnvolles für die Gesellschaft leisten können.
Unterhalb dessen gibt es eine große Vielfalt: Das Interesse an kulturellen Aktivitäten und das hochschulpolitische Engagement im Studium schwanken stark zwischen verschiedenen Studierendengruppen. Engagement findet eher im Curriculum als außerhalb statt und ist vornehmlich auf den späteren Beruf bezogen. Die Hochschule als politischer Ort spielt eine geringe Rolle, das Studieren steht demgegenüber eher im Vordergrund. Das müssen wir 68er akzeptieren lernen und daraus nicht umstandslos gleich auf Desinteresse schließen.
Das Spiel, die jeweils neue Studierendengeneration als faul und unpolitisch zu beschimpfen, dieses Spiel, das regelmäßig wieder gespielt wird, leider insbesondere von Alt-68ern, wie mir scheint, sollten wir zugunsten einer Detailanalyse nicht mitspielen. Vor diesen Karren sollten wir uns nicht spannen lassen.
Sie untersuchen ja auch den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Studienerfolg. Welches Bild zeichnet sich hier?
Tatsächlich ergeben unsere Daten, dass die soziale Herkunft nicht maßgeblich mit der Art des Kompetenzerwerbs und einem geordneten Studienverlauf zusammenhängt, will sagen: dass es innerhalb der Studiengänge keine gravierenden Unterschiede zwischen dem Lernen und Organisieren derjenigen Studierenden mit so genannter hoher und so genannter niedriger sozialer Herkunft gibt.
Der französische Soziologie Pierre Bourdieu führte den Begriff kulturelles Kapital ein. Das kulturelle Kapital umfasst dabei die Bildung, Wissen, Werte, wie sie in spezifischen sozialen Schichten vorhanden sind. Bourdieus geht nun davon aus, dass Bildungssysteme oft nur die "Vorbildung" und das "Vorwissen" derjenigen abfragen und belohnen, die gesellschaftlich die Wohlhabenden sind. Da das Vorwissen und die Kultur von Kindern aus anderen Schichten in der Schule nicht gefragt ist, werden diese benachteiligt.
Diese Erkenntnis geht aber mit dem Befund einher, dass die Unterschiedlichkeit in den einzelnen Studiengängen sowieso nicht hoch ist: Die Geschlechter sind schön auf die Studiengänge aufgeteilt, der Besitz an kulturellem Kapital im Bourdieu'schen Sinne [siehe Kasten] ebenfalls: Fast keine Frauen im ingenieurwissenschaftlichen Bereich, bis 100 Prozent Frauen im sozialpädagogischen Bereich, Eltern mit akademischer Bildung an den Universitäten, mit Realschulabschluss an den Hochschulen für angewandte Wissenschaften. Womit ich sagen will: Innerhalb der Studiengänge sind die Unterschiede gering, zwischen den Studiengängen und dann noch einmal Hochschulen sind sie aber gewaltig. Es gibt Studiengänge, die studieren fast nur Frauen, andere, die studieren fast nur Männer. Und eben auch: Es gibt Studiengänge, die studieren fast nur Kinder aus akademischem Elternhaus, und andere, die überwiegend von Kindern nicht-akademischer Herkunft studiert werden.
Entscheidend für einige der Unterschiede, die in einzelnen Studiengängen dann dennoch zwischen den Studierenden zu beobachten sind, sind dann vor allem die Einschätzung des Dozentenverhaltens und der Lehrstil desselben. Für den Studienverlauf ist hier vor allem prägend, ob die Studierenden Berufserfahrungen mit Bezug zum Studium mitbringen.
Kurzum: Die Studierenden sind bereits vorsortiert, wenn sie an die Hochschule kommen. Ziel muss daher sein, eine Verschiedenheit und Unterschiedlichkeit der Studierendenschaft bis in einzelne Studienhänge hinein herzustellen und so die Studierendenquote und damit die Bildungsbeteiligung bisher benachteiligter Schichten zu erhöhen: Mehr Frauen in die Männerfächer, mehr Männer in die Frauenfächer, auch und vor allem aber eben mehr Kinder nicht-akademischer Herkunft in die Studiengänge und Fakultäten, in und an denen diese bisher unterrepräsentiert sind.
Was raten Sie denn Studieninteressierten, die nicht wissen, ob sie sich ein Studium wirklich trauen sollten? Und was solchen, die sich vom Studium mehr und mehr überfordert fühlen?
Unbedingt persönlichen Kontakt zu Mitstudierenden suchen, also Angebote zur Orientierung wie beispielsweise Einführungswochen und Erstsemesterfeiern nutzen, Fragen stellen, in die Sprechstunden der Lehrenden gehen, ein persönliches Zeitbudget erstellen, die Tutorien für den Aufbau von studentischen Arbeitsgruppen nutzen, die möglichst mehrere Semester überdauern. Die eigenen Kritikpunkte am Studium zusammenstellen und ins Netz stellen, um darüber zu chatten. Eine Erläuterung des Studienaufbaus und der Beurteilungskriterien für Leistungsnachweise einfordern.
Ich bedanke mich für das Gespräch.
Literaturliste
Zum Forschungsprojekt
- Untersuchung zu Studienverläufen und Studienerfolg - Präsentationen
- Studierende im Mittelpunkt: Wie Bachelor-Studiengänge (um-)gestalten? (einige konkrete Vorschläge)
Zum Weiterlesen zum Thema soziale Selektivität auch an Hochschulen
- "Benachteiligungen aufgrund der sozialen Herkunft gibt es nicht nur an Schulen!" (Interview mit Andreas Kemper zum Thema Klassismus; 12.10.2010)
- Der Mythos von der Chancengerechtigkeit: Was PISA mit sozialer Selektion mit Benotung mit Leistungsideologie zu tun hat (Eine Einführung in die Notenkritik von Jens Wernicke)
- Klasse Bildung? Klassenbildung! (Ein Kommentar von Jens Wernicke und Klemens Himpele; 11.10.2007)
Probleme rund ums Studium
Hintergrund
Die folgenden Informationen lehnen sich an Artikel aus der wikipedia an.
Pierre Bourdieu
Pierre Bourdieu, Franzose, war einer der bedeutendsten Soziologen und kritischen Intellektuellen des letzten Jahrhunderts.
Seit 1981 hatte Bourdieu einen Lehrstuhl für Soziologie am Collège de France inne, eine der höchsten Positionen im französischen Universitätssystem. 1985 wurde er Direktor des CSE am Collège de France und der EHESS in Paris. Im selben Jahr bat ihn Staatspräsident François Mitterrand, Vorschläge zur Reform des französischen Bildungswesens auszuarbeiten.
Bourdieu war auch, vor allem in späteren Jahren, ein politischer Intellektueller: Bekannt geworden ist seine Solidarisierung mit streikenden Bahnarbeitern auf einer Betriebsversammlung im Gare de Lyon am 13. Dezember 1995. Im Jahre 1998 unterstützte er die Arbeitslosenbewegung in Frankreich, war Mitbegründer der globalisierungskritischen Bewegung attac und trat im Mai 2000 für eine Vernetzung der sozialen Bewegungen in Europa gegen den Neoliberalismus ein.
Obwohl ins Zentrum der akademischen Macht in Frankreich, dem Collège de France, vorgedrungen, blieb er, aus einfachsten Verhältnissen stammend, Zeit seines Lebens dem Gebaren und den Gepflogenheiten dieser Institution gegenüber innerlich distanziert. Seine kritisch-ironische Antrittsvorlesung Leçon sur la leçon und die großangelegte Studie Homo academicus zeugen davon.
Kulturelles Kapital
Kulturelles Kapital ist ein Begriff, der vom französischen Soziologen Pierre Bourdieu eingeführt wurde. Er benutzt den Terminus, um zu zeigen, dass materieller Besitz (ökonomisches Kapital) nicht nur in Geld umgewandelt werden kann und nicht das einzige Kriterium für soziale Ungleichheit darstellt. Vielmehr wird die Aufteilung der Gesellschaft in arm und reich von Bourdieu an die unterschiedliche Verfügung über die vier Kapitalsorten ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital und symbolisches Kapital sowie an Unterschiede in Geschmack und Lebensstil gebunden.
Das kulturelle Kapital umfasst dabei die Bildung, Wissen, Werte, wie sie in spezifischen sozialen Schichten bzw. Klassen anzufinden sind. Wenn nun, das das ist Bourdieus Theorie, ein Bildungssystem aber nur die "Vorbildung" und das "Vorwissen" derjenigen abfragt und belohnt, die gesellschaftlich die Wohlhabenden sind, sorgt es mittels seiner Bewertung, die sich in Noten oder anders ausdrückt, für soziale Selektion: Da das Vorwissen des Arbeiterkindes und seine Kultur, die es daheim kennt, in der Schule nicht gefragt sind, wird es benachteiligt; da die Schule genau die Kultur abverlangt, die das Akademikerkind von daheim kennt, wird dieses im Bildungssystem bevorteilt.
In seinem Buch "Wie die Kultur zum Bauern kommt" bringt Bourdieu seine über Jahre hinweg gesammelten wissenschaftlichen Erkenntnisse dann auch auf folgenden Punkt:
- "Von unten bis ganz nach oben funktioniert das Schulsystem, als bestünde seine Funktion nicht darin auszubilden, sondern zu eliminieren. Besser: in dem Maß, wie es eliminiert, gelingt es ihm, die Verlierer davon zu überzeugen, dass sie selbst für ihre Eliminierung verantwortlich sind. Indem das Schulsystem alle Schüler, wie ungleich sie auch in Wirklichkeit sein mögen, in ihren Rechten und Pflichten gleich behandelt, sanktioniert es faktisch die ursprüngliche Ungleichheit gegenüber der Kultur. Die formale Gleichheit, die die pädagogische Praxis bestimmt, dient in Wirklichkeit als Verschleierung und Rechtfertigung der Gleichgültigkeit gegenüber der wirklichen Ungleichheit in Bezug auf den Unterricht und der im Unterricht vermittelten oder, genauer gesagt, verlangten Kultur."