NeuauflageUni-Angst und Uni-Bluff heute
Das Interview führte Jens Wernicke.
Studis Online: Herr Wagner, Ihr 1977 erstveröffentlichtes Buch „Uni-Angst und Uni-Bluff“ (siehe Rezension) hat sich zu einem Bestseller entwickelt. Im Kern ging es Ihnen damals um das Aufdecken einschüchternder Universitäts-Rituale sowie einer Hilfe zur Selbsthilfe für Studierende, die Funktion solcher „Bluffs“, wie Sie es nennen, zu durchschauen und sich nicht einschüchtern oder brechen zu lassen. Dieser Tage erschien nun, dreißig Jahre später, eine überarbeitete Version Ihres Buches. Warum?
Wolf Wagner (*1944), Professor für Sozialwissenschaften und Politische Systeme an der FH Erfurt und Autor des Buches „Uni-Angst und Uni-Bluff“. Die erste Fassung schrieb er noch als Hochschulassistent 1977, die Habilitation erfolgte 1979. Danach zunächst Forschungsreisen und Arbeit als Freier Therapeut (mit Heilpraktikerabschluss). Professor an einer Hochschule seit 1992. Er war von 2001 bis 2005 Rektor der FH Erfurt.
Wolf Wagner: Einmal, weil ich inzwischen Rektor einer Hochschule war und aus dieser Sicht doch einiges dazugelernt habe über deutsche Hochschulen und darum vieles korrigieren musste. Damals meinte ich, der Bluff, die überschüssige Selbstdarstellung und unnötig komplizierte oder unverständliche Formulierung, käme auch bei den Professoren aus einer Angst vor Blamage. Inzwischen weiß ich, dass dies nicht der Fall ist. Bei ihnen liegt es daran, dass sie voll und ganz auf die Spitzenforschung ausgerichtet sind. Denn nur die gilt etwas an deutschen Hochschulen. Die Lehre und damit die Bemühungen um verständliche Formulierung steht unter „ferner liefen“.
Zum anderen musste eine Neufassung her, weil sich mit dem Internet, Bachelor und Master, Modularsierung und Studienbeiträgen die Studiensituation so völlig verändert hat, dass man auch die Tipps zum guten Studieren völlig neu fassen musste.
Was hat sich seit Ihrem ersten Buch zum Thema verändert?
Für die Studierenden beinahe alles: Durch die Umstellung auf gestufte Studiengänge mit ihren Modulen ist es überall dort viel verschulter und enger geworden, wo anstatt einer echten Modularisierung, also Zusammenfassung von Lehrveranstaltungen und Prüfungen zu einem Lernkomplex, eine Scheinmodularisierung durchgeführt worden ist.
Scheinmodularisierung ist, wenn die alten Lehrveranstaltungen einfach in Module umbenannt worden sind und so für jede Lehrveranstaltung auch noch Modulprüfungen anfallen. Besonders schlimm ist das dann, wenn mit der Scheinmodularisierung der Stoff des früheren Diplomstudiums einfach in das viel kürzere Bachelor-Studium gepresst wurde. Da an den meisten Hochschulen und Studiengängen überwiegend Scheinmodularisierungen durchgeführt worden sind, haben sich die Studienbedingungen für die meisten Studierenden massiv verschlechtert. Schuld daran sind die Professorinnen und Professoren, die sich nicht von ihrer einmal eingeschliffenen Lehre verabschieden wollen oder können.
Zum Positiven verändert hat sich die Situation durch das Internet. Informationen sind jetzt in unglaublichem Umfang überall und sehr schnell erhältlich. Das kann das Studium sehr erleichtern, wenn man weiß, wie mit dem Internet umzugehen ist. Dazu gibt das Buch Anleitungen. Zum Positiven verändert sich meiner Meinung nach überdies auch die Machtsitutation an den Hochschulen. Die Professorenschaft konnte bisher mit ihrer Mehrheit in allen Gremien alle Reformen verhindern, die ihre angestammten Privilegien auch nur in Frage gestellt hätten. Die neuen Hochschulgesetze schränken die Wirksamkeit dieser Sperrmajorität sehr stark ein.
Welche „Bluffs“ attestieren Sie dem heutigen Hochschulsystem? Wie wirken sie?
Bluff ist die überschüssige, unnötig komplizierte Formulierung von inhaltlich durchaus korrekten Aussagen. Bluff ist nichts frei Erfundenes oder gar völlig Substanzloses. So wie Frauen Makeup auflegen oder Männer sich mit Piercings zurechtmachen, um etwas schöner und attraktiver zu wirken als sie sonst wären, so werden im Hochschulbetrieb Aussagen aufgemotzt, mit Fremdwörtern gespickt und mit berühmten Namen und Verweisen in Schachtelsätze gepackt bis sie viel wissenschaftlicher und anspruchsvoller klingen als sie eigentlich sind.
Läuft es im Kern noch auf die „alte“ Diagnose heraus: Wer, auch unsicher, nur am sichersten und klügsten tut, kommt am ehesten durch ... ist also „alles eine Frage des Habitus“?
Ja. Der Akademikerhabitus ist das, was man an Hochschulen zusätzlich zum Fach lernt: Sich zu jedem Thema so zu äußern, dass die Leute meinen, man würde aus einer ganzen Bibliothek an Wissen schöpfen. Diese Art Selbstsicherheit macht die „Chemie“ aus, die beim Einstellungsgespräch entscheidet.
Was also raten Sie Studierenden, wie mit der aktuellen Situation umzugehen ist? Was sollen Sie tun, um sich „nicht zu verlieren“, wie es im Untertitel Ihrer Publikation heißt?
Zuerst einmal sollten sie mein Buch lesen, denn da steht das genau drin. Ich kann es nicht auf so kurzen Raum wiederholen, sonst hätte ich es nicht schreiben müssen. Dennoch drei Tipps:
Den Respekt vor Wissenschaft verlieren - genau nachlesen bis man gemerkt hat, was der Text wirklich sagen will.
Wissenschaftliche Arbeit in Handarbeit verwandeln damit man sichtbare Erfolgserlebnisse hat.
Das Inhaltsstudium vom Aufstiegsstudium trennen, das heißt nicht immer auf die Noten schielen. Die Abiturnote ist ein guter Vorhersager für die Studiennote. Aber beide sind kein guter Vorhersager für den Berufserfolg. Für den genügen gute Noten. Die mit den besten Noten erzielen im Durchschnitt einen geringeren Berufserfolg. Für den braucht es Neugier, Eigeninitiative, Auslandserfahrung, Praxiserfahrung und eine Sachorientierung statt alleine oder überwiegend Noten.
Fällt eben dies nicht Studierenden aus den so genannten „bildungsfernen Schichten“ besonders schwer: Tut sich, wer nicht aus dem Bürgertum kommt, mit dem neu zu lernenden, fremden Habitus, dem selbstsicheren Auftreten, dem „bluffenden“, unangreifbaren Verfloskulieren, nicht vielleicht besonders schwer?
In der Tat. Darum gehen die Angehörigen bildungsferner Schichten, in denen die Sprache und das gebildete Sprechen keine so wichtige Rolle spielen, auch mit Vorliebe in Fächer, in denen Sprache und das gebildete Sprechen auch keine so zentrale Rolle spielen: Ingenieurwesen, Naturwissenschaften, Mathematik. Und weil dort massiver Fachkräftemangel herrscht, haben sie langfristig die besten Gewinnchancen, wenn sie sich nicht von dem Gerede über die Studiengebühren abschrecken lassen.
Wie wirken Studiengebühren, Bachelor und Master und andere aktuelle „Reformen“ auf die Studierenden und Lern- sowie Arbeitsbedingungen von heute? Meiner Meinung nach herrscht an Hochschulen heutzutage ein noch weitaus mehr ausgeprägter Anpassungs- und Leistungsdruck. Was meinen Sie?
Studiengebühren sind in den Bundesländern, in denen sie eingeführt worden sind per Gesetz einzig und allein zur Verbesserung der Lehre einzusetzen. Sie werden also langfristig die Studiensituation nachhaltig verbessern. Die Machtverschiebung zugunsten der Hochschulleitungen, die an hoher Studienzufriedenheit interessiert sein müssen, weil die Hochschulen insgesamt nach der Anzahl Studierender bezahlt werden, wird meiner Meinung nach zu einer weiteren Verbesserung der Studiensituation führen.
Eine neue Generation von Professorinnen und Professoren, die mitbekommen, dass das Gedeihen ihrer Hochschule auch an der Lehre und nicht mehr alleine an der Forschung hängt, wird auch die Situation verbessern. Weil aber die gegenwärtige Generation der Professorenschaft in ihrer Mehrheit ihre alten Privilegien und Gewohnheiten verteidigt, ist die Situation gegenwärtig in der Tat für die Studierenden besonders schwierig. Die oben beschriebene Scheinmodularisierung wirkt hier besonders bedrückend.
Wieso sind Ihrer Meinung nach die neuen, gestärkten Hochschulleitungen denn ausgerechnet an einer besseren Qualität der Lehre interessiert? Auf Hochschulmessen gewinnt man derzeit eher den Eindruck, dass statt „besserer Lehre“ von den Hochschulen der Zukunft eher „aufwendigere PR“ zu erwarten sein wird. Des Weiteren ist das Ziel "viele Studierende" doch nicht zwingend dasselbe wie „gute Lehrqualität“.
In allen Ländern der Bundesrepublik werden die Landesmittel auf die Hochschulen nach jeweils unterschiedlichen Modellen der Leistungsbeurteilung vergeben. In Thüringen geschieht dies nach der LUBOM-Formel (Leistungs- und belastungsoritentierte Mittelvergabe). In allen Formeln steht die Anzahl der Erstsemester und die Anzahl der Absolventen und Absolventinnen an erster Stelle.
Erstsemester werden in der Tat mit PR-Maßnahmen geworben. Entscheidender sind jedoch gerade für die Universitäten die Rankings. Diese hängen eng mit der Qualität des Studiums, der Ausstattung und Betreuung zusammen. Die Anzahl der Absolventen und Absolventinnen hängen sehr stark an den Abbrecherquoten. Die hängen mit der Qualität von Lehre und Prüfungen zusammen. Darum haben die Hochschulleitungen ein großes Interesse an der Qualitätssicherung. Sie haben als Hochschulrektorenkonferenz (HRK) schon seit vielen Jahren das Projekt Q (für Qualitätssicherung) in Gang gesetzt. Akkreditierungen und Reakkreditierungen werden rigoros von der Existenz und dem Funktionieren einer Reihe von Instrumenten und Maßnahmen der Qualitätssicherung abhängig gemacht.
Die Umverteilung der Macht vor allem in Richtung der Leitungsorgane führt zu weniger Mitbestimmung aller anderer Hochschulangehöriger, insbesondere auch der Studierenden. Warum sollte ausgerechnet eine Machtkonzentration auf wenige Personen Besseres bewirken?
Die Hochschulautonomie gibt es nicht, um an den Hochschulen Demokratie zu gewährleisten. Sie ist einzig und allein ein Mittel, die in Artikel 5 Absatz 3 Grundgesetz garantierte Freiheit von „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre“ zu gewährleisten. Darum hat das Bundesverfassungsgericht 1974 entschieden, dass die Professorenschaft in Fragen, die Lehre und Forschung betreffen, mit absoluter Mehrheit quasi alleine entscheiden. Zu Lehrfreiheit gehört auch die Freiheit des Studiums. Darum sind Studierende an den Entscheidungen zu beteiligen.
Das Bundesverfassungsgericht hat aber auch gemerkt, dass die Professorenmehrheit mit ihrer Blockademehrheit alle gesellschaftlich gewollten Reformen verhindert hat. Darum hat es 2006 entschieden, dass Vertreter dieser gesamtgesellschaftlichen Anforderungen an die Hochschule in der Hochschule mehr Einfluss gewinnen. Das sind die Kuratorien und die Hochschulleitungen, die in Abstimmung zwischen Hochschule und Landesregierung ernannt werden. Die Entmachtung der Professorenschaft ist demnach eine Voraussetzung dafür, dass das gesellschaftliche Interesse an einer guten Lehre sich durchsetzen kann.
Dabei reduzieren sich auch die Einflussmöglichkeiten der Studierenden. Das ist wahr. Doch diese sind auch in der Vergangenheit zu Zeiten der Drittel- und Viertelparität nur sehr gering genutzt worden, wie sich an den Beteiligungen an studentischen Wahlen ablesen lässt. Aber selbst wenn die Studierenden alle Möglichkeiten genutzt hätten, wären sie in allen entscheidenden Fragen von der Professorenmehrheit überstimmt worden. Und deren Interessen liegen vor allem in der Bewahrung ihrer Privilegien, was in der Vergangenheit bedeutet hat, Reformen zu verhindern.
Inwiefern ist diese „neue Generation von Professorinnen und Professoren“, von der Sie sprechen, denn gegen das Bluffen und die etwaige Statusverteidigung mehr als die alte Generation immun?
Die neue Generation von Professorinnen und Professoren wird nach der W-Besoldung bezahlt. Auf ein relativ geringes Grundgehalt müssen sie sich immer neu Zulagen verdienen, die ihnen nie sicher sind. Die Lehre ist ein wesentlicher Bestandteil der Leistungsbeurteilung.
Bisher war das Gehalt unabhängig von jeder Leistung. Erfolge in der Forschung führten jedoch zu erheblichen Zusatzeinkünften, neuen Stellen und Ruhm und Ehre. Erfolge in der Lehre führten nur zu mehr Arbeit, mehr Studierenden, mehr Prüfungen, mehr Korrekturen. Das führte zu einer einseitigen Ausrichtung der Professorenschaft auf die Forschung, auf ihre Sprache und Rituale. Diese Ausrichtung ist die Grundlage und eigentliche Ursache des Bluffs. Darum ist der Bluff eine spezifisch deutsche Erscheinung und besonders an Universitäten verbreitet, wo die Forschung stärker verankert ist als an Fachhochschulen.
Mit der Besoldungsreform ändert sich das grundlegend. Gute Lehre kann zu denselben Gehaltsteigerungen führen wie gute Forschung. Darum werden die unter der W-Besoldung eingestellten Professoren und Professorinnen ein vitales Interesse entwickeln an guter Lehre, an Verständlichkeit und gelingenden Lernprozessen der Studierenden. Das dürfte auch dazu führen, dass sich der Bluff reduziert. Verschwinden wird er dadurch aber nicht. Dazu bedarf es einer Reihe weiterer Reformen, die ich in meinem Buch genauer beschreibe.
Bei Ihrer Diagnose des Hochschulsystems wunderte mich bereits bei Ihrer 1977er Veröffentlichung, dass Ihre Konsequenz hieraus „einzig“ ein Ratgeber für Studierende zu sein schien, wie mit dieser misslichen Lage am besten umzugehen sei. Täten nicht ebenso auch institutionelle Kritik am Hochschul- und Wissenschaftssystem und hieraus abgeleitete Veränderungen not?
Wenn Sie das neue Buch lesen, werden Sie davon in Hülle und Fülle finden. Es geht darum, die Sperrmehrheit der Professorenschaft auf den unmittelbaren Bereich der Wissenschaftsfreiheit zu beschränken und endlich Erfolge in der Lehre genauso zu belohnen wie Erfolge in der Forschung. Dazu wäre eine richtig durchgeführte Modularisierung eine wichtige Voraussetzung. Aber es muss viel mehr getan werden. Davon mehr im Buch!
Danke für das Gespräch!
Hinweis: Insbesondere beim Thema Studiengebühren und der Umverteilung der Entscheidungsbefugnisse an Hochschulen in Richtung Hochschulleitungen und „Hochschulräte“ teilen Jens Wernicke, aber auch der Herausgeber von Studis Online, Oliver Iost, nicht die Meinung von Professor Wagner. Wir würden die damit einhergehenden Verheißungen eher als Bluff bezeichnen wollen. Letztlich sollte das aber jedeR selbst beurteilen und Behauptungen – egal von wem – immer kritisch prüfen.
Zu vielen angesprochen Themen im Interview gibt es bei Studis Online noch weiterführende Informationen. Die wichtigsten zählen wir im folgenden auf:
- Rubrik „Probleme rund ums Studium“ (in der u.a. eine Rezension der „alten“ Fassung des Buches „Uni-Angst und Uni-Bluff“ zu finden ist)
- Er-findet Exzellenz! Wettbewerb auf der Wissenschaftsbühne
- Reformchance oder Abwicklung? Zur Debatte um die Weiterentwicklung der Akkreditierung
- Weniger Demokratie wagen? Zur Zukunft der Selbstverwaltung der Hochschulen
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